10. Kapitel

 

(Sommer 1748, im Oderbruch) 

 

 

Graben, graben und immer wieder graben. Sie graben vom frühen Morgen bis in den Abend, und am nächsten Tag graben sie wieder. Nur am Sonntag herrscht Ruhe im Oderbruch, aber hätte der Herrgott nicht die Heiligung des Sonntags befohlen - der König würde sie auch noch an diesem Tag graben lassen, davon war Jakob fest überzeugt. Seine Hände waren mit dem Spaten fast schon verwachsen, die Finger krumm von dem Stiel, sein Rücken schmerzte, und wenn er am Abend endlich neben Clara im Wagen lag, spürte er jeden einzelnen Muskel in seinem Körper. Das Leben auf dem Gehöft seines Vaters war hart gewesen, doch das war nichts gegen diese nun schon Wochen andauernde gleichförmige und scheinbar nie endene Tätigkeit. Längst hatten sich die Blasen an seinen Händen in feste Haut verwandelt, und wenn es so weiterging, dann würde er eines Tages mit der bloßen Kraft dieser Hände Steine zerquetschen können. Jakob hasste das Graben. Er hasste diese Arbeit, obwohl ihr Sinn ihm einleuchtete und er sogar Bewunderung hegte für diejenigen, die dieses gewaltige Projekt verwirklichen wollten: die Trockenlegung eines ganzen Landstrichs und seine anschließende Besiedlung mit Bauern. Er selbst sollte eines Tages einer dieser Bauern sein, er sollte Ackerland bekommen und dazu ein Haus. Doch wie viele Jahre würden darüber wohl noch ins Land gehen? Jahre, in denen er sich so sehr plagte, dass er selbst im Schlaf mit dem Graben nicht aufhören konnte.

 

Mechanisch, in dem ewig gleichen Rhythmus, der den ganzen Tag über anhielt, stieß Jakob seinen Spaten in den Morast und beförderte einen weiteren Erdklumpen in den Korb, den Frauen, nachdem er voll war, aus der Grube trugen. Seite an Seite mit ihm gruben diejenigen, die er auf der Reise kennengelernt hatte, Philipp Schuch und Georg Spieß, Arnold Steuer und Jost Schwefel und verschiedene andere. Vor allem Adam, mit dem ihn inzwischen eine enge Freundschaft verband. Einen Kanal sollten sie graben. So etwas wie einen Seitenarm der Oder, der einen Teil von deren Wasser aufnehmen würde, damit es schneller 

abfließen konnte. Männer aus Holland hätten das alles geplant, hatte ihm einer erzählt. Der König habe sie zu Hilfe geholt, weil sie in ihrem Land seit Generationen Erfahrung mit solchen Projekten besäßen. Wenn einmal alles fertig sei, so hieß es, werde das ganze Oderbruch von diesem Kanal sowie von zahlreichen Entwässerungsgräben und Deichen durchzogen sein, ein für Laien kaum zu durchschauendes Netz, in dem alles fein säuberlich aufeinander abgestimmt sein musste. Jeder noch so kleine Fehler konnte schwerwiegende Folgen haben. Fand etwa Wasser einen Weg in den Kanal, während sie noch in ihm gruben, so konnten sie alle mit Mann und Maus darin ertrinken. „Unsinn!“, hatte ihnen ein Beamter des Königs versichert, dem sie ihre Besorgnis vorgetragen hatten. „Es besteht nicht die geringste Gefahr!“ Aber konnte man Männern wie diesem trauen? Wenn der Teufel den Menschen im Oderbruch zum Tanz aufspielen wollte, dann würde er sich von den Beamten des Königs ganz gewiss nicht aufhalten lassen.

 

Um die Mittagszeit brachte man ihnen etwas zu essen wie an jedem Tag. Obwohl der König in seinem Leben zweifellos nie Hunger kennengelernt hatte, schien er zu wissen, dass ein leerer Magen ein schlechter Arbeiter war. Einer neben dem anderen ließen sie sich an der Oberkante des künftigen Kanals nieder und machten sich über das Essen her. Was hätte er dafür gegeben, jetzt auf seiner eigenen Wiese zu liegen, alle Viere weit von sich gestreckt, und die Wolken am Himmel zu beobachten, wie sie luftig und leicht über das Land zogen, vielleicht geradewegs zu seiner alten Heimat, die nun schon so lange hinter ihm lag. Wie gern hätte er ihnen einen Gruß mitgegeben, an seinen Vater, an seine Mutter … Der Schlag eines Hammers gegen einen Spaten unterbrach seine Gedanken. Das Signal, dass die Pause vorbei war und die Arbeit wieder aufgenommen werden sollte. Erneut nahm er den Spaten und stieg mit den anderen Männern die Böschung zur Sohle des Kanals hinunter, wo er das Blatt ein weiteres Mal in das sumpfige



Erdreich stieß. Ein weiteres Mal, und dann noch einmal und noch einmal, immer wieder graben, graben und graben …

 

Obwohl er erschöpft war, fand er in der Nacht keinen Schlaf. Unruhig wälzte Jakob sich auf seinem Lager, stets dabei bemüht, Clara nicht aufzuwecken, die neben ihm lag. Seit Adam in einem Zelt nächtigte, war es in ihrem Wagen ein wenig geräumiger. Doch der gewonnene Platz war noch immer nichts gegen das Bett, in dem sie eines Tages ruhen würden, wenn ihr Haus erst einmal gebaut war. Irgendwann hielt Jakob es nicht mehr aus und stieg aus dem Wagen. Umgeben von einem bleichen Hof stand der Mond über dem Bruch. Trotz der Wärme am Tag war es auch jetzt im Sommer nachtsüber mitunter empfindlich kühl, weshalb Jakob sich in eine Decke gehüllt hatte. Ein Stück abseits des Wagens ließ er sich auf der Erde nieder und starrte in den Himmel. Sofort stiegen wieder Gedanken in ihm auf, und es schien ihm, als vermochte der Mensch sich auch nicht für einen kurzen Moment von ihnen zu befreien, selbst wenn er sich noch so sehr darum bemühte. Wo er Leere suchte, füllten sie seinen Kopf sofort mit Erinnerungen an Vergangenes und entwarfen Pläne für die Zukunft. Und fanden sie nichts Bestimmtes, woran sie sich festhalten konnten, dann spielten sie bunte Reihe - von seinen Eltern über das Graben und wie er eines Tages seinen Acker bestellen würde bis zu dem Kind, das Clara Ende des Jahres zur Welt bringen würde, und wie Adam zu einer Ehefrau kommen konnte. So sehr war Jakob in diesem Durcheinander versunken, dass er die Schritte nicht hörte, die sich ihm näherten. Als ein Schatten neben ihm auftauchte, zuckte er zusammen. „Verzeih“, vernahm er eine Stimme. "Ich wollte dich nicht erschrecken.“ Es war Elsa. Auch sie hatte sich in eine Decke gehüllt, und mit den Worten „Ich konnte nicht schlafen“, ließ sie sich neben ihm nieder.

 

Jakob nickte schweigend. Seit sie von Berlin aufgebrochen waren, war Elsa ihm mehrmals begegnet. Und jedesmal war er beeindruckt gewesen, wie tapfer sie die Wunden ertrug, die die Bösartigkeit anderer Menschen ihr zugefügt hatte. Doch obwohl sie nicht mehr darüber sprachen, so spürte er doch, welch schwere Last diese junge Frau mit sich herumtrug. Auch die Last ihrer Eltern war erheblich, wenngleich deren anfängliche Angst, aus Berlin könnte man versuchen, sie aufzuspüren, allmählich gewichen war, je weiter sie sich von der Stadt entfernt hatten. Vielleicht hatte sich der Umstand günstig für sie ausgewirkt, dass die Mutter den Beutel zurückgegeben hatte, wenngleich mit weniger Geld. Vielleicht übte sich aber auch der Seidenfabrikant in Zurückhaltung, weil das Bekanntwerden seiner gemeinen Erpressung ihm in der Öffentlichkeit zweifellos schweren Schaden zugefügt hätte. Nein, Verfolgung mussten sie wohl nicht mehr befürchten, allerdings machte die harte und völlig ungewohnte Arbeit im Bruch auch ihnen schwer zu schaffen. Und die Angst vor dem Sumpffieber. „Elisabeth wird die Krankheit wohl nicht überstehen“, kam Elsa auf die Ehefrau von Johann Weiß zu sprechen, nachdem sie und Jakob eine Weile geschwiegen hatten. „Der jüngste Fall“, ging dieser auf das Gesagte ein, „aber nicht der erste und gewiss nicht der letzte.“ Auch eine Tochter von Arnold Steuer hatte es bereits erwischt. Und wie man hörte, war in der Gruppe, die kurz vor ihnen im Bruch eingetroffen war, auch schon einer nicht mehr am Leben. Weit mehr als die Unfälle, die sich auf den Baustellen gelegentlich ereigneten, war das Sumpffieber ihr Feind. „Du kennst Elisabeth schon lange, nicht wahr?“, erkundigte sich Elsa.

 

„Ja“, antwortete Jakob. „Ich kenne sie, seit wir in der Heimat aufgebrochen sind. Eigentlich wollte sie gar nicht fort, sie selbst nicht und auch ihr Johann nicht. Bei einem Erntedank haben sie sich 



kennengelernt, sie haben sich ineinander verliebt und wollten heiraten. Aber ihr Grundherr hat es ihnen nicht erlaubt.“ - „Weil sie Leibeigene waren?“ Wieder antwortete Jakob mit einem Ja. „Spielt die Leibeigenschaft auch nicht mehr überall in der Pfalz eine Rolle, so gilt sie vielen Grundherren noch immer als gottgegeben, und sie denken gar nicht daran, auf ihre Rechte zu verzichten. Ihre Bauern müssen noch immer Frondienste leisten, sie unterliegen ihrer Gerichtsbarkeit, und ohne ihre Einwilligung dürfen sie nicht in ein anderes Dorf ziehen. Auch für eine Heirat brauchen sie ihre Zustimmung, aber die haben die beiden in diesem Fall nicht bekommen. Und weil sie sich damit nicht abfinden wollten …“ - „… ist Elisabeth schwanger geworden“, ergänzte Elsa. „Genau so war es“, bestätigte Jakob. "Und weil sie nun ein Kind erwarteten, mussten sie heiraten, um nicht in der Sünde zu leben. Aber sie durften ja nicht heiraten, deshalb sind sie fortgezogen - mit der Erlaubnis ihres Grundherrn.“

 

Elsa wollte gerade fragen, warum der Grundherr ihrem Fortzug zugestimmt hatte, nicht aber ihrer Heirat, als Jakob sie unvermittelt am Arm fasste und auf eine Stelle am Himmel wies. „Sieh nur!“, brachte er aufgeregt hervor. „Sieh!“ Für einen Augenblick war sie verwirrt von seiner plötzlichen Erregung, doch dann drehte sie den Kopf in die Richtung. Und noch im selben Moment sah sie das, was die meisten Menschen nur vom Hörensagen kannten: Ein Komet zog über den nächtlichen Himmel. Lautlos und majestätisch schwebte er aus Richtung des Sonnenuntergangs heran und hielt auf die Hügel zu, deren Spitzen über dem Wald auf der anderen Seite der Oder zu erkennen waren. Hinter sich her zog er einen langen Schweif von gelblicher Färbung, und beides zusammen sah aus wie ein Drachen. Wie versteinert saßen die beiden da und verfolgten das himmlische Schauspiel. Dass Kometen zumeist Unheil ankündigten und nur selten etwas Gutes, hatte jeder von ihnen gehört: Überschwemmungen und Hagelschlag, Viehseuchen und Hungersnöte, Teuerungen, Krankheiten, Elend und Krieg und damit all das, was die Menschen an den Rand 

ihrer Existenz bringen konnte. Die Zuchtrute Gottes nannten viele deshalb solch ein himmlisches Flammenzeichen. Sein Racheschwert, das er hervorholte, um die Menschen für ihre Sünden zu bestrafen.

 

Der Komet war längst wieder verschwunden, die Nacht wie zuvor in Dunkelheit gehüllt, als Elsa als Erste die Sprache wiederfand. „Was für ein schreckliches Zeichen!“, flüsterte sie mehr, als dass sie es sagte. Wäre es hell gewesen, hätte Jakob ihr kreidebleiches Gesicht sehen können. Sie stand auf, behielt aber weiterhin die Stelle im Blick, an der die Erscheinung zu sehen gewesen war. Jakob erhob sich ebenfalls, und auch er fühlte sich schlecht. „Ich habe niemanden außerhalb der Wagen und Zelte gesehen, vielleicht waren wir die einzigen Zeugen dieses Ereignisses. Es ist wohl am besten, wir behalten die Angelegenheit für uns. Wenn wir den anderen davon berichten, dann beunruhigen wir sie nur. Und das können wir alle nicht gebrauchen.“

 

„Ja, wir behalten es für uns“, stimmte Elsa ihm zu, während sie sich anschickte, zu ihrer Familie zurückzukehren. „Und hoffen wir, dass dem Zeichen kein Unglück folgt“,  fügte Jakob hinzu. ‚Auch wenn die Erfahrung dagegen spricht‘, wollte er noch ergänzen. Aber er tat es nicht.

 

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Sumpffieber: Malaria