12. Kapitel

 

(gegen Ende des Sommers 1748, im Oderbruch) 

 

 

An einem grauen Herbsttag im Jahr 1748, kurz nach Sonnenaufgang, wurde Jesko gehängt. Seine Familie hatte um Gnade für ihn gebettelt, das ganze Dorf hatte an den König appelliert und seinen Großmut beschworen, doch alles umsonst. Ein aufgesetztes Schreiben voller tränenreicher Klagen war gar nicht erst weitergeleitet worden. Ein Umstand, der indes ohne Bedeutung war, denn genützt hätte dieser aus der Verzweiflung geborene Versuch ohnehin nicht. Was die Sabotage an seinem Projekt Oderbruch anbelangte, so hatte der König eine eindeutige Haltung, die nicht durch Argumente und erst recht nicht durch Gefühle zu erschüttern war. Wäre das Wort nicht unpassend gewesen für diese rein weltliche Unternehmung, so hätte man sagen können, die Trockenlegung des Oderbruchs war ihm heilig. Weshalb jeder, der dies zu hintertreiben versuchte, die unversöhnliche Seite des Preußenkönigs zu spüren bekam. So wie in diesem Fall Jesko.

 

Schon vor Sonnenaufgang waren alle auf den Beinen: neben dem Richter und dem Henker Kolonisten aus verschiedenen Teilen des Reiches, Ingenieure und königliche Beamte, angeworbene Bauleute und Soldaten sowie - worauf der Richter besonderen Wert gelegt hatte - zahlreiche Wenden aus den umliegenden Dörfern, waren es doch Angehörige dieses Volkes, die dem Projekt immer wieder zu schaden versuchten. Ort des Geschehens sollte eine Eiche in der Nähe des betroffenen Deiches sein, zu der die Soldaten die Menschen mit lautem Trommeln zusammengerufen hatten. Den Deich selbst hatte man einstweilen in seinem beschädigten Zustand belassen, um die Widersetzlichkeit der Wenden anschaulich zu demonstrieren. Da die Schuld des Täters außer Frage stand, war der Weg bis zu seiner Verurteilung kurz gewesen. Aus welchem Grund er sein Verbrechen denn begangen habe, hatte der Richter Jesko gefragt, worauf dieser einmal mehr den jedermann bekannten Standpunkt seines Volkes wiederholt hatte: dass das Land Wendenland sei, dass sie als Wenden auch zukünftig so leben wollten wie bisher, und dass sie das Recht für 

sich in Anspruch nähmen, sich gegen jeden zur Wehr zu setzen, der ihnen ein anderes Leben aufzwingen wollte. Ausführungen, die der Richter mit dem ebenfalls jedermann bekannten Argument beantwortet hatte, dass es dem König mitnichten um die Vertreibung oder gar die Ausrottung der Wenden gehe, schließlich seien auch sie seine Untertanen, und wie alle anderen würde er sie ebenfalls nach der Trockenlegung des Bruchs als Bauern gerne willkommen heißen. Worauf Jesko mit einer wegwerfenden Handbewegung und mit anschließendem Schweigen geantwortet hatte, wodurch die Befragung sehr schnell zu Ende gewesen war. Und nun also harrten all die zahlreich Versammelten des weiteren Fortgangs der Dinge, ganz vorn der Richter mit seiner gepuderten Perücke und der schwarzen Robe, zu beiden Seiten die Soldaten mit ihren Trommeln und in einigem Abstand das Volk, das teils aufgeregt schwatzend, teils schweigend und mit versteinerten Gesichtern dem bevorstehenden Geschehen entgegensah. Auf einem Pferdekarren unter einem großen Ast stand Jesko, neben ihm ein Priester und der Henker, den man - ebenso wie den Richter - eigens zu diesem Zweck aus Angermünde herbeigeholt hatte. Ein Bauer hielt das Pferd am Zügel.

 

Und dann war da noch Jeskos Familie. Eng drängten sich alle zusammen und hielten einander  umfasst - seine Frau Swatka, dazu Malascha und Slawa, die beiden Töchter sowie der dreijährige Budek. Den erst vor wenigen Wochen geborenen Slatka hatten sie im Dorf gelassen, außerdem fehlte Ljuba. Zum Glück fehlte sie, jedenfalls aus Sicht der Familie. Denn wäre sie zu diesem Zeitpunkt an diesem Ort ebenfalls zugegen gewesen, so hätte sie neben ihrem Vater auf dem Karren gestanden. Ljuba, die zwar selbst keine Hand gegen den Deich gerührt und nur Wache gestanden hatte, was in den Augen des Richters allerdings für eine Verurteilung gereicht hätte. „Gnade für meinen Mann und unseren Vater!“ und „Seid gnädig, ihr hohen Herren!“ riefen Swatka und ihre Töchter immer wieder, bis die Drohung eines Soldaten 



mit seinem Bajonett ihnen den Mund verschloss. Mit lauter Stimme verkündete der Richter das Urteil, wonach der Wende Jesko wegen Widersetzlichkeit gegen Seine Majestät, den König von Preußen, gehängt werden solle, bis dass der Tod einträte. Der Priester sprach einen letzten Segen, und während die Soldaten die Trommel rührten, legte der Henker dem Verurteilten den Strick um den Hals. Plötzlich stockte er, denn gerade in diesem Augenblick flog ein Fischadler über die Versammlung hinweg. Auch alle anderen hatten den Vogel gesehen, und für die Dauer eines Atemzugs herrschte Totenstille, sogar die Trommeln hatten ausgesetzt. Doch schon im nächsten Moment war die Unterbrechung vorbei. Der Henker nickte, der Bauer ließ die Peitsche knallen, und das Pferd zog den Karren an.

 

Ein Aufstöhnen ging durch die Menge, einige stießen einen Schrei aus, andere schluchzten, wieder andere standen stumm da und starrten auf den leblosen Körper, den die frühe Morgensonne in ein viel zu warmes Licht tauchte - jetzt, wo alles Leben aus ihm gewichen war. Auf ein Zeichen des Richters ging die Versammlung zuende. Dem Recht war Genüge getan, dem Willen des Königs entsprochen, und weil es nun nichts mehr zu tun gab, verließen die Anwesenden nach und nach den Ort des Geschehens. Auch Jakob, Clara und Adam kehrten zu ihrem Wagen zurück. Zu dem Wagen, in dem Ljuba versteckt zwischen Kisten und Säcken gerade die schlimmste Zeit ihres Lebens durchlitt. Gesehen hatte sie nichts, aber sie hatte genug gehört, um sich die dazugehörigen Bilder vorstellen zu können. Was für ein Grauen: Der Vater tot, die Familie zerstört, und obwohl sie so dicht beieinander waren, durfte es ein Wiedersehen mit den geliebten Menschen nicht geben. Anstatt die Trauer mit ihnen zu teilen, wie menschliches Mitgefühl es verlangt hätte, war sie in einem Wagen eingesperrt, der ihr zwar Schutz für ihr Überleben bot, der aber zugleich nichts anderes für sie war als ein Gefängnis. Und das unbeschadet der Tatsache, dass seine Bewohner alles daransetzten, ihr den erzwungenen Aufenthalt so erträglich wie möglich zu machen. Verlassen durfte sie den Wagen nur während der 

Nacht. Tagsüber musste sie still sein aus Sorge, dass ein Fremder auftauchen würde und ihr Verstecken am Ende doch noch umsonst gewesen sein könnte. Gäbe es nicht die drei Menschen, die ihr halfen und ihr immer wieder Mut zusprachen - allein würde sie diese entsetzliche Zeit nicht durchstehen. Und dabei wusste niemand, was ihr noch alles bevorstand.

 

Aber es waren nicht allein die Trauer um den Verlust ihrer Familie und die Bedingungen, unter denen sie leben musste, die sie belasteten und die sie selbst während der Nacht kaum Ruhe finden ließen. Da war auch noch eine Frage, die sie hin- und herwälzte und die sie über alle Maßen quälte: Warum waren die Deutschen in jener schicksalsträchtigen Nacht überhaupt an dem Deich erschienen, an dem ihr Vater zugange gewesen war? Zwar stellten sie regelmäßig Wachen auf, jedem im Bruch war das bekannt. Doch nahmen diese - und auch das wusste jeder - ihre Aufgabe eher nachlässig wahr. Und ausgerechnet in dieser Nacht waren sie gänzlich unerwartet aufgetaucht und hatten ihren Vater und sie selbst überrascht. War das ein Zufall gewesen, oder hatte jemand seine Hand dabei im Spiel gehabt? Von einzelnen Wenden hatte der Vater gesprochen, die die Trockenlegung des Bruchs durchaus guthießen. Sollte etwa einer von denen von dem Plan ihres Vaters erfahren und ihn den Deutschen gemeldet haben? Ein Verräter aus ihrem eigenen Volk? Eine Ungeheuerlichkeit und kaum vorstellbar. Und dass die Häscher rein zufällig erschienen waren? Eine Frage, das musste sich Ljuba eingestehen, auf die sie wohl niemals eine Antwort  bekommen würde.

 

Dass die Zeit alles Leid heilt, diesen Spruch hatte Ljuba schon als Kind von ihrer Mutter gehört, und in ihrem späteren Leben hatte sich dessen Wahrheit wiederholt bestätigt. Nun bestätigte sie sich ein weiteres Mal. Zwar blieb die Trauer um den Tod ihres Vaters bestehen und auch der Schmerz über den Verlust ihrer Familie, aber dennoch fand sie sich nach und nach immer mehr in ihre neue Lage hinein. Wobei ihre neu 



gewonnenen Freunde sie dabei tatkräftig unterstützten. Tagsüber gruben Jakob und Adam weiter an dem Kanal oder schütteten Deiche auf, während sie selbst Clara zur Hand ging, soweit das unter den eingeschränkten Bedingungen möglich war. Drei Wochen hielt diese Situation noch an, drei unendlich lange Wochen, bis es endlich hieß, in Kürze werde man das Oderbruch verlassen. Wie alle anderen aus ihrem Volk spürte Ljuba das Herannahen der Zeit, in der die während vieler Monate ruhig dahinfließende Oder sich in ein wildes Gewässer verwandeln würde. Mit einem Ungeheuer hatten die Alten die Oder verglichen, wenn sie sich die Geschichten ihrer Ahnen erzählten. Ein Ungeheuer, das den Großteil des Jahres friedlich in seiner Höhle schlief, dann aber zum Leben erwachte und die Herrschaft über das Land übernahm. „Morgen brechen wir auf“, verkündete Jakob eines Abends, als er müde und erschöpft von der Arbeit zurückkehrte. Sie merkte ihm die Erleichterung an, ihm ebenso wie Adam und Clara. Und obwohl das Wissen sie schmerzte, dass ein Abschied vom Bruch einen noch größeren Abstand zwischen ihr und ihrer Familie bedeutete, atmete sie gleichzeitig auf bei dem Gedanken, dass sie auf diese Weise endlich ihre Freiheit wiedererlangen würde. An einem anderen Ort konnte sie den Wagen jederzeit verlassen, denn dort würde niemand mehr nach ihr suchen. Fast wurde sie schon ein wenig euphorisch, wenn sie sich in diese neue Lage hineindachte. Doch schon im nächsten Moment stand wieder die große Frage vor ihr: Und was dann?