13. Kapitel

 

(Ende 1748 bis Anfang 1749, Storkow) 

 

 

Das Schreien, das am Heiligen Abend aus dem Gasthaus „Zur Linde“ am Markt in Storkow durch die Butzenscheiben nach draußen drang, wollte gar nicht mehr aufhören. Es war so laut und so durchdringend, dass die Besucher des Gottesdienstes in der nahegelegenen Kirche die Köpfe in Richtung der Schreie drehten, obwohl sie nichts sehen konnten. Ebenso wenig wie der Pfarrer auf der Kanzel, der mitten in der Verlesung der Lukaserzählung von der Geburt des Herrn im Stall zu Bethlehem innegehalten hatte. Gerade an der Stelle, als Maria das Kind in Windeln wickelte und in eine Krippe legte. In Bethlehem war es still, Maria musste nicht mehr schreien - falls sie das überhaupt getan hatte -, denn sie hatte die Geburt bereits hinter sich. Anders als Clara in der „Linde“, bei der die Wehen ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt ihren Höhepunkt erreichten. Selbst erschrocken durch das anhaltende Schreien, schob ihr die Hebamme ein Stück Holz zwischen die Zähne, auf das Clara so heftig biss, als gelte es, das Holz in Fasern zu zerlegen. Obwohl draußen Schnee fiel und der Winter die kleine Stadt und das Land drumherum fest im Griff hatte, stand die Hebamme im Schweiß. Geradezu beschwörend redete sie auf die Gebärende ein, versuchte sie durch jenes Tal der Schmerzen hindurch zu begleiten, das dem Mutterglück stets vorgelagert ist, diesmal offenbar ein besonders tiefes Tal, so wie sie das in all den Jahren ihrer Tätigkeit nur selten erlebt hatte. Die erfahrenste Hebamme war sie allerdings nicht, wie sollten sich auch arme Auswanderersleute eine jener Hebammen leisten können, die üblicherweise den Kindern von Adligen und gut betuchten Bürgern auf die Welt halfen. Doch sie gab ihr Bestes. Und als wollte der Himmel dieses Bemühen anerkennen, gelang schließlich doch noch, woran sie schon beinahe zu verzweifeln begonnen hatte: das Kind kam zur Welt. Ein Junge, klein und von einer wachsartigen Substanz bedeckt, mit runzliger Haut und einem Ansatz von tiefschwarzem Haar auf dem Köpfchen. Nach dem Willen der Eltern sollte das Kind auf den Namen von Jakobs Vater getauft werden: Albert.

 

Heißes Wasser stand bereit, ebenso die Schere zum Durchtrennen der Nabelschnur und trockene Tücher - was nun folgte, war für die Hebamme reine Routine. Elsa und Ljuba, die auf Claras Wunsch die Geburt begleitet hatten, gingen ihr dabei zur Hand. Und nachdem alle ihren Beitrag geleistet hatten und Entspannung in der „Linde“ sich breitmachte, hielt Clara ihren Sohn im Arm, die Tür wurde geöffnet, und Jakob, der Vater, durfte eintreten. Noch völlig geschwächt und doch glücklich sah Clara ihn an. Gleich darauf stand auch Adam neben dem Bett. Obwohl es nicht sein Kind war, fühlte er sich aufgrund der langen Zeit, die sie miteinander verbracht hatten, doch selbst ein wenig als Vater. Ob es Zufall war, dass sein Blick bei dieser Gelegenheit zu Ljuba wanderte, und ob es auch bei ihr reiner Zufall war, dass sie ihn ansah, hätte keiner von ihnen zu sagen gewusst. Aber während alle übrigen im Raum mit Worten und Blicken ganz bei dem Kind waren, schauten sie beide sich an. Und in ihren Köpfen regte sich, nicht zum ersten Mal, aber noch nie so intensiv wie in diesem Moment, derselbe Gedanke: Hier in Storkow soll es geschehen.

 

Ein Stück abseits stand Elsa und sagte kein Wort. Mit welch ungutem Gefühl hatte sie diesem Augenblick entgegengesehen! Hätte Clara nicht ausdrücklich auf ihrer Anwesenheit bestanden, sie hätte sich ferngehalten von ihr in dieser Stunde, die solch eine besondere war. Doch Clara hatte sie unbedingt dabei haben wollen, deshalb hatte sich Elsa nach mehreren vergeblichen Ausreden gefügt. Einen näheren Kontakt hatten die beiden Frauen schon länger. Bald nach ihrem Aufbruch in Berlin war Elsa immer häufiger in der Nähe von Claras Wagen aufgetaucht, und in deren Sicht hatte sich allmählich eine Freundschaft zwischen ihnen entwickelt. Für Elsa war es dagegen vor allem die Nähe zu Jakob gewesen, um die es ihr gegangen war. Die Nähe zu dem Mann, der in ihrer finstersten Stunde erschienen war und es geschafft hatte, ihrem Leben eine neue Richtung zu geben. Jakob war das Gegenteil jener beiden grausamen Männer, die sie in die 



Verzweiflung getrieben hatten. Für sie verkörperte er die besten Eigenschaften seines Geschlechts. Er zeigte Verständnis für sie, hörte ihr zu und half ihr, anstatt rücksichtslos nur auf seine eigenen Interessen zu setzen. War das Verhalten der Männer in Berlin für Elsa ein Blick in einen Abgrund gewesen, so hatte hier ein Mann durch seine Vereinigung mit einer Frau das Schönste bewirkt, was es für eine Frau geben konnte: das Hervorbringen neuen Lebens als Frucht ihrer Liebe. Ein Erlebnis, dass sie Clara durchaus gönnte, war die doch immer freundlich zu ihr gewesen und hatte sich ebenso wie Jakob darum bemüht, ihr über die quälenden Erinnerungen hinwegzuhelfen. Und dennoch spürte sie Stiche und fühlte sich durch Claras großes Glück in ihrem Innersten verletzt. Hatte das Gefühl, dass das Leben ungerecht zu ihr war.

 

Drüben in der Kirche ging der Gottesdienst unterdessen weiter. Mit geschwellter Brust und aus vollem Herzen lobten die gottesfürchtigen Storkower das Wunder der göttlichen Geburt. Mit Ausnahme von denen, die mit der weltlichen Geburt in der „Linde“ befasst waren, befanden sich auch alle Kolonisten dort - froh darüber, ihrem Glauben so nachgehen zu können, wie sie es sich gewünscht hatten und nicht wie in der alten Heimat, wo ihnen das von ihren Grundherrn aufgezwungen worden war. Nicht alle, die sich zu Beginn des Jahres zum Preußenkönig auf den Weg gemacht hatten, waren anwesend. Zwei von ihnen waren im Oderbruch dem Sumpffieber erlegen, einer war einem Unfall zum Opfer gefallen und ein weiterer einem Streit mit einem Franken. Seit das Bruch überschwemmt war, lebten die Kolonisten in Storkow, zum Teil von der königlichen Kasse alimentiert. Später, nach dem Rückzug des Wassers, würden sie ins Bruch zurückkehren und mit Spaten und Hacken die begonnenen Arbeiten fortsetzen. So jedenfalls sah der Plan des Königs es vor.

 

Doch nicht allen galt dieser Plan als ein unverrückbares Gesetz. Ausgehend von den Erfahrungen der vergangenen Monate hatte sich 

bei etlichen Kolonisten eine Haltung breitgemacht, die eine Mischung aus Enttäuschung, Verärgerung und Unwilligkeit war. Hatten diejenigen, die sie angeworben hatten, denn etwas von der Trockenlegung eines Sumpfgebietes gesagt? Hatten sie ihnen die dort herrschenden Bedingungen geschildert? Waren sie auf das Graben eines schier endlosen Kanals zu sprechen gekommen, auf die Anlage von Entwässerungsgräben und das Aufschütten von Deichen? Und was war mit dem Sumpffieber? Nein, von alledem hatten die Werber ihnen nichts erzählt, nur vom Dasein als freie Bauern auf freier Scholle gesprochen. Lügner waren diese Kerle gewesen, die ihnen mit schönen Floskeln eine goldene Zukunft vorgegaukelt hatten, ohne Worte wie Oderbruch, Überschwemmungen und Sumpffieber auch nur einmal in den Mund zu nehmen. „Wir gehen nicht ins Bruch zurück“, hatten einige Kolonisten deshalb schon bald nach ihrer Ankunft in Storkow gesagt. Und wie sich ein Brand mit großer Geschwindigkeit ausbreitet, wenn das Gestrüpp nur trocken genug ist, so hatte sich auch dieses „Wir gehen nicht zurück“ unter den Auswanderern auszubreiten begonnen, bis aus dem anfänglichen Meckern der Gedanke gereift war, ein Schreiben aufzusetzen und sich mit einer Schilderung ihrer Situation an den König zu wenden. „Und wenn er uns nun Undankbarkeit vorwirft und wir seine Gunst verlieren?“, hatte einer seine Bedenken zum Ausdruck gebracht. „Was machen wir dann? Sollen wir etwa in unsere alte Heimat zurückkehren?“ - „Und außerdem“, hatte sich ein anderer zu Wort gemeldet, „wie schreibt man denn überhaupt einem König? Wir sind Bauern und Handwerker und keine Tintenkleckser!“

 

Diskussionen und viele offene Fragen also auf der einen Seite, auf der anderen aber auch eine Entscheidung. Es war an einem sonnigen Januartag, als Adam und Ljuba vor einem Altar nach christlichem Ritus zu Mann und Frau wurden. Erstaunt hatte der Pfarrer zur Kenntnis genommen, dass Ljuba eine Wendin war. Ehen mit Frauen aus diesem 



Volk kamen nicht oft vor, aber nachdem er sein Erstaunen überwunden und sich außerdem davon überzeugt hatte, dass sie mit den christlichen Glaubenssätzen vertraut war - wie fast alle Wenden im Bruch war sie getauft -, hatte er getan, was seines Amtes war. „Hätten wir in meiner alten Heimat geheiratet“, sagte Adam anschließend zu seiner frisch angetrauten Ehefrau, „dann hätten wir jetzt ein großes Fest gefeiert. Volle zwei Tage lang, und alle Freunde und Bekannten wären dabei gewesen. Und geschlemmt hätten wir. Nur das Beste, was die Küche hergegeben hätte!“ - „Bei uns wäre das nicht anders gewesen“, antwortete Ljuba. Und als sie ihm eine Hochzeitsfeier in ihrem Dorf ausmalte, füllten sich ihre Augen sofort wieder mit Tränen, worauf auch Adam in Nachdenklichkeit versank. Zwei Menschen fernab ihrer Heimat, auf Dauer von ihren Familie getrennt, nun aber in Liebe vereint. Ein kleines Glück in einer sehr schwierigen Welt.

 

Anfang März fiel noch einmal Schnee, während alle Welt sich bereits sehnsüchtig den Frühling herbeiwünschte. Drei Tage lag die Stadt unter einer weißen Decke, und ein eisiger Wind wehte von Osten heran. Dann schlug das Wetter auf einmal um, und der Schnee begann zu schmelzen. Erleichtert atmeten alle auf, dass sie nach einer schier endlosen Zeit die warmen Kleider ablegen konnten, und so mancher Körper kam nun auch das erste Mal seit längerem wieder mit Wasser in Berührung. Adam und Ljuba unternahmen Spaziergänge am Fluss, der sich unweit der Stadt durch grün werdende Wiesen schlängelte. Unter der Aufsicht von Clara und Jakob wuchs der kleine Albert heran und versprach zum Stolz seiner Eltern ein prächtiges Bürschlein zu werden. Es war in diesen Tagen, als die Kolonisten den Entschluss fassten, sich nun doch mit einem Schreiben an den König zu wenden. Viel Zeit blieb ihnen nicht mehr. Hatte sich das Oderwasser aus dem Bruch erst einmal zurückgezogen, würde der König die Wiederaufnahme der Arbeit von ihnen verlangen. Ein Argument, das nicht von der Hand zu weisen war, und deshalb ging nun alles ganz schnell. Mit der Abfassung eines Briefes beauftragte man einen der beiden Stadtschreiber, der schon  

einmal ein Schreiben an den Vater des gegenwärtigen Königs aufgesetzt hatte und der deshalb als erfahren galt. In wohlgesetzten Worten ließen die Kolonisten ihn über ihre Lage berichten. Wie die Werber sie mit falschen Versprechungen getäuscht hatten, dass sie ungeeignet seien für die Arbeit im Bruch, aber dass sie als fleißige Bauern und Handwerker fähig und willens seien, an einem anderen Ort und unter anderen Bedingungen ihre Kraft zur Mehrung des Reichtums und des Ansehens des Königreichs Preußen einzusetzen. „… ihre ganze Kraft“, ließen sie den Schreiber noch ergänzen, weil es ihnen wichtig erschien und wofür sie auch die Mehrkosten in Kauf nahmen, musste der Schreiber doch noch einmal von vorne beginnen. Nachdem schließlich alles zu Papier gebracht war und drei von ihnen ihre Unterschrift unter das Schreiben gesetzt hatten - zweimal drei Kreuze und ein krickeliger Name -, gaben sie das Schreiben an den König auf den Weg.

 

„Wird er es lesen?“ war die Frage, die in den folgenden Tagen mehr als alles andere die Gemüter bewegte. Die Meinungen waren geteilt. Während die einen die Ansicht vertraten, der König werde sich um die Wünsche seiner neuen Untertanen einen Dreck scheren - „Der will sein Oderbruch trockengelegt haben, und ob uns das passt oder nicht, ist ihm völlig gleichgültig!“ -, setzten andere darauf, dass er an unwilligen Arbeitern kein Interesse haben könne, sondern dass ihm an tüchtigen und fleißigen Menschen gelegen sein müsse. „Ein König“, sagten Letztere, „hat Beamte und Soldaten, die müssen essen, damit sie ihm dienen und Krieg für ihn führen können. Und wer ernährt sie? Das sind wir!“ Zwei gleichermaßen vorstellbare Überlegungen, die der König anstellen konnte, und deshalb wollte die Unsicherheit nicht von ihnen weichen. Bis eines Tages eine Antwort aus Berlin eintraf, die ihnen ein königlicher Beamter vorlas. „Seine Majestät“, so hieß es in dieser Antwort, „hat den Wunsch seiner getreuen Untertanen gnädigst zur Kenntnis genommen und ihn mit wohlwollender Prüfung bedacht. Nach reiflicher Überlegung sind Seine Majestät zu einer endgültigen 



Entscheidung gelangt.“ Worauf der Beamte eine Pause einlegte und seinen Blick über die Versammelten schweifen ließ, die vor Aufregung kaum noch zu atmen wagten. „Seine Majestät, der König“, fuhr er dann fort, „hat entschieden, dem ehrerbietigen Anliegen seiner neuen Untertanen allergnädigst zu entsprechen und ihnen anstelle des Oderbruchs eine andere Heimat zuzuweisen, auf dass sie ein Dorf gründen und gemäß ihren Fähigkeiten und Fertigkeiten den Wohlstand seines Reiches nach Kräften mehren. Der Name dieses Dorfes laute Curthschlag.“