14. Kapitel

 

(Mai 1749, Kurtschlag) 

 

 

Es gibt Streitigkeiten, bei denen geht es um Ruhm oder Macht, um Landgewinn oder Geld, um große Dinge also. In diesem Fall ging es um weit Geringeres. Einer der beiden Streithähne war Johannes Schultze, ein kräftiger, leicht aufbrausender Mann mit einem Nacken wie ein Stier, Pächter des Vorwerks Curthschlag, eines zur Stadt Zehdenick gehörenden landwirtschaftlichen Betriebs inmitten der Schorfheide. „Ihr mit Euren verdammten Kartoffeln!“ schrie er sein Gegenüber an, den anderen Streithahn namens Heinrich Reppin, seines Zeichens Heidereiter in dieser Gegend. Ebenfalls ein kräftiger Mann, hatte dieser in der Auseinandersetzung allerdings gerade den Kürzeren gezogen. Stöhnend tastete er mit der Hand sein schmerzendes Auge ab und spürte eine beginnende Schwellung unter seinen Fingern. Im Wohnhaus des Vorwerks standen sich die beiden gegenüber, anwesend waren außerdem einige Knechte des Vorwerks, die jedoch den Mund hielten, was Johannes Schultze ihnen sonst auch sehr übel genommen hätte. „Ihr mit Euren verdammten Kartoffeln!“, schrie er noch einmal. „Wir wollen sie nicht, und mögt Ihr uns auch tausend Mal erzählen, dass sie nützlich und nahrhaft sind und welche angeblichen Vorzüge sie sonst noch besitzen! Wir bauen das Gleiche an, was unsere Vorfahren angebaut haben. Und wäre das nicht das Richtige für uns, dann hätte uns der Hunger längst unter die Erde gebracht. Was sollen uns also Eure verdammten Kartoffeln!“

 

Begonnen hatte der Streit damit, dass der Heidereiter dem Schulzen von seinem Besuch in Berlin berichtet hatte. Der König hatte ihn und einige andere Heidereiter aus der Schorfheide zu sich beordert, um mit ihnen Fragen des Waldes und der Jagd zu erörtern, und am Ende des Zusammentreffens hatten Diener seine Besucher zu einem Feld geführt, und er hatte sie begleitet. Doch wie groß war ihre Enttäuschung gewesen, als sie vor dem Feld standen! Wo sie etwas ganz Besonderes erwartet hatten, was es wert gewesen wäre, dass der König höchstselbst es ihnen zeigt, sahen sie sich einer Pflanzenart gegenüber, die sie nicht

kannten und die sie - wären sie selbst mit der Pflege des Feldes betraut gewesen - augenblicklich ausgerissen und als Unkraut verbrannt hätten. Halbvertrocknete Blätter und unscheinbare weiß-lilafarbene Blüten, das war alles. Doch der König sah das völlig anders. „Das Wesentliche habt Ihr noch nicht gesehen“, spielte er seinen Trumpf aus, nachdem er sich zunächst an ihrer Ahnungslosigkeit ergötzt hatte. Und obwohl die nachfolgende Handlung seinen seidenen Rüschenärmel beschmutzte, schob er seine Hand neben einer der Pflanzen in die Erde und zog sie gleich darauf mit einer geheimnisvollen Bewegung wie ein Magier wieder heraus. Verschmitzt lächelnd, hielt er das Ausgegrabene in die Höhe: ein kleines, runzeliges, von Erde überzogenes braunes Gewächs von ebensolch unansehnlicher Gestalt wie das, was über der Erde zu sehen war. „Eine Kartoffel!“, sagte der König, und es klang, als präsentiere er einen kostbaren Diamanten.

 

Ratlosigkeit spiegelte sich in allen Gesichtern. 'Kartoffel' - so so, das war also der Name dieses Gewächses, aber was hatte das unansehnliche Ding mit ihnen zu tun? Der König hatte die Antwort: Diese Pflanze, erklärte er, stamme aus dem Süden des amerikanischen Kontinents, wo Bauern sie als einen wesentlichen Bestandteil ihrer Nahrung anbauten und von wo spanische Seefahrer sie mit ihren Schiffen nach Europa gebracht hatten. Sie stelle keine hohen Ansprüche an den Boden, sei stark sättigend, und überdies versetze sie die arme bäuerliche Bevölkerung in die Lage, einen Teil ihres geernteten Korns auf dem Markt zu verkaufen, aus dem sie sonst Brei gemacht hätten. Was zukünftig aber nicht mehr nötig sei, denn für ihre Ernährung besäßen sie ja nun die Kartoffel. Einer nach dem anderen nahmen die Heidereiter das merkwürdige Gewächs in die Hand und betrachteten es von allen Seiten. Um keinen Deut besser sah es nach der Erklärung des Königs aus, doch schien ihm das völlig gleichgültig zu sein, denn seine Entscheidung stand bereits fest. Die Entscheidung, dieses unansehnliche Gewächs zu einer wesentlichen Quelle der Ernährung 



seiner Untertanen zu machen. Und als die Heidereiter am darauffolgenden Tag aus Berlin abreisten, hatte jeder von ihnen ein Säckchen voll jener königlichen Kartoffeln im Gepäck, mit denen er in den Dörfern seines Bezirks die dortigen Bauern vertraut machen sollte. Was der Heidereiter Heinrich Reppin dann auch versucht hatte, allerdings bisher ohne Erfolg. Auch der Pächter Johannes Schultze hatte ihn nur ausgelacht und verspottet: „Bleibt mir vom Leib mit Euren Erdklumpen! Diese Dinger will niemand, selbst meine Schweine würden die nicht fressen. Unser König hat sich einen Scherz mit Euch erlaubt, und Ihr habt es nicht gemerkt!“ Und weil der Pächter im Anschluss an diese Sätze auch noch Wörter wie „leichtgläubig“, „unwissend“ und schließlich sogar „dumm“ gebraucht hatte, war es zu jenem Streit zwischen den beiden Männern gekommen, in dessen Verlauf der Heidereiter die erwähnten Schläge hatte einstecken müssen.

 

Und nun also standen sich die beiden gegenüber, lauernd und darauf vorbereitet, dass die Auseinandersetzung sich fortsetzen würde, als auf einmal die Ehefrau des Pächters in der Tür erschien. „Du wirst dringend gebraucht“, rief sie ihrem Mann zu. „Bei der Schwarzbunten geht es los. Wenn wir das Kalb nicht verlieren wollen, musst du mit anpacken!“ Der Pächter warf dem Heidereiter noch einen vernichtenden Blick zu, dann drehte er sich wortlos um und verschwand durch die Tür. Gleich darauf verließ auch der Heidereiter den Kampfplatz, nachdem er seinem Gegner - der ihn allerdings nicht mehr hören konnte - noch ein paar Verwünschungen hinterhergeschickt hatte. Wütend stieg er auf sein Pferd und ritt davon. Draußen auf dem Hof konnte sich auch der Pächter noch immer nicht beruhigen. „Kartoffeln!“ schimpfte er vor sich hin, während er seiner Frau zum Stall hinterher eilte. „Was um alles in der Welt sollen wir mit diesen dämlichen Kartoffeln!“ 

 

Zuerst der Heidereiter, dann das Kalb - genug Aufregung für einen ganzen Tag, sagte sich der Pächter und hoffte, dass er von weiteren 

Aufregungen bis zum Abend verschont bleiben würde. Eine Hoffnung, die sich allerdings nicht erfüllen sollte, denn nicht lange, nachdem er einem Kalb auf die Welt geholfen hatte, machte ihm ein Ingenieur aus Zehdenick einen Strich durch die Rechnung. Am frühen Nachmittag tauchte der Mann in einem Einspänner auf und teilte ihm etwas mit, was ihn kräftig verwirrte. „Was habt Ihr da gerade gesagt?“, fragte er seinen Besucher und legte die Stirn in Falten. Auf einer Bank vor seinem Haus hatten sie sich niedergelassen, jeder mit einem Becher Bier in der Hand, das der Pächter von einem Bürger aus Groß Schönebeck bezogen hatte. Mit einem einzigen Zug leerte der Ingenieur seinen Becher. Der Weg von Zehdenick zum Vorwerk war beschwerlich gewesen, da er sich in einem sehr schlechten Zustand befand. Eigentlich hatte er dem Pächter als erstes nach seiner Ankunft die Frage stellen wollen, wann man ihn denn endlich ausbessern würde. Doch angesichts eines viel wichtigeren Themas hatte er darauf verzichtet. Jenes Themas, auf das der Pächter mit dem erstaunten „Was habt Ihr da gerade gesagt?“ geantwortet hatte. Und dabei hatte er durchaus verstanden, worum es ging. Sein angehängtes, hörbar erschrockenes „Kolonisten?!“ war die Bestätigung dafür.

 

„Jawohl, Kolonisten“, wiederholte der Ingenieur. „Sie stammen aus dem Südwesten des Reiches, vor allem aus der Pfalz. Zehn oder elf Familien. Glaubensflüchtlinge die meisten, die übliche Geschichte.“ Der Pächter machte ein Gesicht, als habe er in etwas Saures gebissen. Der Ingenieur bemerkte es, fuhr aber unbeirrt fort: „Zuerst waren sie im Oderbruch, nur ging ihnen die dortige Arbeit schwer von der Hand. Den Winter haben sie außerhalb des Bruchs verbracht, und nun will Seine Majestät, unser König, diesen Leuten hier eine neue Heimat geben. Man hat mir den Auftrag erteilt, das Land für sie auszumessen: wo sie ihre Häuser bauen können, wo ihre Felder und Wiesen liegen sollen - na, Ihr wisst schon, eben alles, was dazugehört. Und Ihr sollt …“

 



„Glaubensflüchtlinge!“, unterbrach der Pächter seinen Besucher. Hatte er bis zu diesem Zeitpunkt mühsam an sich gehalten, so brach es nun um so heftiger aus ihm heraus. „Glaubensflüchtlinge!“, wiederholte er, und das Wort klang bei ihm wie eine Krankheit. „So nennen sie sich. Aber sind sie das wirklich? Oder handelt es sich nicht viel eher um Leute, die in ihrer Heimat Verbrechen begangen haben und nun lieber bei uns leben wollen als daheim am Galgen zu hängen? Diebe, Falschspieler, Betrüger … wer weiß, vielleicht haben sie ja auch noch Frauen geschändet. Man hat schon so einiges gehört von solchen Leuten!“ Gereizt kippte er den Rest seines Bechers herunter und wischte sich mit der Hand über den Mund.

 

Der Ingenieur ging auf die Worte seines Gegenübers nicht ein. Folgen Fremde dem Ruf des Königs, dann können das nur Menschen sein, die Böses im Schilde führen … Mehr als einmal hatte er das schon gehört. Natürlich gab es unter ihnen auch solche, von denen der Pächter gesprochen hatte. Doch waren das Ausnahmen. Bei den allermeisten handelte es sich um fleißige und gottesfürchtige Leute. Wenn nur nicht …  - „Ihre Sprache“, warf der Pächter ein und nahm damit die Worte des Ingenieurs vorweg. „Diese Sprache! Man versteht solche Menschen ja kaum. Niemand sollte so sprechen müssen! Beim Turmbau zu Babel kann es nicht schlimmer gewesen sein!“ - „Da habt Ihr allerdings recht“, stimmte ihm der Ingenieur zu. Und da er in seinem Leben schon oft mit aufgebrachten Menschen zu tun gehabt und dabei gelernt hatte, dass sich ihre Erregung unter Umständen aufbrechen ließ, wenn man es nur richtig anpackte, ahmte er mit gekünstelter Mimik und unter gestenreicher Zuhilfenahme seiner Hände die Sprache jener Kolonisten nach - so gekonnt, dass sich selbst auf dem düsteren Gesicht des Pächters der Anflug eines Lächelns zeigte.

 

Das Papier, das der Ingenieur kurz darauf aus einer Tasche hervorholte und dem Pächter reichte, verbesserte dessen Stimmung schließlich ganz 

erheblich. „Man hat mich beauftragt, Euch bei meinem Besuch dieses Schreiben zu übergeben. Darin steht, dass Seine Majestät beabsichtigt, Eure Erbpacht an Grund und Boden in Besitz umzuwandeln. Außerdem ist es der Wunsch Seiner Majestät, Euch zum Schulzen über die Kolonisten einzusetzen. Ihr werdet den Aufbau des Dorfes leiten, das an der Stelle dieses Vorwerks entstehen und dessen Namen Curthschlag übernehmen soll. In allem, was für den Aufbau des neuen Dorfes notwendig ist, sollen die Kolonisten Euch gehorchen, auf dass es sich dem Wunsch Seiner Majestät entsprechend kräftig entwickeln möge.“ Der Pächter brauchte einen Augenblick, um die Bedeutung des Gesagten ganz zu erfassen, doch dann spiegelte sich eine Mischung aus Befriedigung und Stolz in seinem Gesicht. An der Stelle einer früheren Pottaschesiederei hatte er das Vorwerk aufgebaut und nun also sollte der Grund und Boden, auf dem er sich viele Jahre geplagt hatte, ihm gehören und später seinen Erben. Und außerdem sollte er der Dorfschulze und damit der erste Mann in dem neuen Dorf sein, den alle zu respektieren hatten. Beeindruckt wie Moses beim Empfang der göttlichen Zehn Gebote hielt der Pächter das königliche Schriftstück in seiner Hand. Eine wichtige Aufgabe, die da auf ihn wartete. Und die der König ihm zutraute.

 

Der Ingenieur hatte sich längst entfernt - mit dem Ausmessen der Grundstücke würde er in den nächsten Tagen beginnen -, da saß der angehende Dorfschulze Johannes Schultze am Ufer des Döllnfließes, des kleinen Flüsschens unweit seines Hofes, und blickte nachdenklich ins Wasser. Ein Hecht lauerte reglos auf Beute, zwischen Blüten schwebten anmutig Libellen, und zwei Eidechsen huschten spielerisch zwischen Steinen umher. Alles strahlte Ruhe und Frieden aus. Nach dem, was sein Besucher ihm gerade mitgeteilt hatte, würde es mit der Ruhe schon bald vorbei sein. Gewiss, ein knappes Dutzend Familien würden aus seinem einsamen Schorfheidehof noch kein Großdorf machen. Aber dennoch würde das Leben für ihn und seine Leute nicht



mehr dasselbe sein. Auch deshalb nicht, weil es sich bei den Neuankömmlingen um Menschen aus einem fernen Teil des Reiches handelte, bei denen vieles vermutlich ganz anders war als hier. Doch hatte es so etwas nicht schon immer gegeben, dass Menschen ihre angestammte Heimat verließen und sich an einem anderen Ort eine neue suchten?

 

Das Erscheinen eines Knechts unterbrach seine Gedanken. „Ihr sollt kommen. Eure Frau sucht Euch.“ Der Pächter blickte auf und sah den Knecht an. Auch einer, dessen Wiege nicht in dieser Gegend gestanden hat, ging es ihm durch den Kopf. Die Eltern stammten aus Böhmen und waren von dem Vater des gegenwärtigen Königs ins Land geholt worden, um das Oderbruch trockenzulegen. Genau das Gleiche, was sein Sohn gegenwärtig versuchte, nur waren die Schwierigkeiten damals zu groß gewesen und der Plan war gescheitert. Worauf die Eltern des Knechts das Oderbruch wieder verlassen und sich hier angesiedelt hatten. Vielleicht war es ja richtig, wenn die Könige Fremde ins Land holten, wie sollte er als kleiner Pächter eines Vorwerks das wissen. Als Pächter - aber schon bald als Schulze eines ganzen Dorfes. Ein Gedanke, der ihm gefiel, je mehr er darüber nachdachte. Der ihm sogar ausnehmend gut gefiel!