15. Kapitel

 

(Ende des Sommers 1749, Kurtschlag) 

 

 

Peter war der Wolf. Kein idealer Wolf, dazu war er zu schwerfällig, und dick war er auch, wofür die anderen Kinder ihn hänselten. Aber das Los hatte ihn nun einmal zum Wolf bestimmt. Weshalb er auf der einen Seite des Spielfeldes stand, das sie in den Sand gezeichnet hatten, und die übrigen Kinder - die Hasen - auf der anderen. Liefen die Hasen los, musste er sie fangen, das heißt mit den Händen berühren, bevor sie seine Seite erreichten, und je mehr er fing, ein um so besserer Wolf war er. War die eine Runde vorbei, wurde ein anderer zum Wolf, und am Ende hatte derjenige gewonnen, der die meisten Hasen gefangen hatte. Es war ein Spiel, dem alle sich mit vollem Einsatz widmeten, denn wer gewann, durfte sich „der Wolf von Curthschlag“ nennen. Jedenfalls bis zum nächsten Abend, wenn das Toben und Lärmen auf der Dorfstraße von neuem begann. Es war die einzige Abwechslung für die Kinder in dieser Zeit, denn ihre Tage gehörten der Arbeit. Kindgerechter Arbeit natürlich, aber jeder Junge und jedes Mädchen musste beim Aufbau des Dorfes mit anpacken, soweit sie dazu in der Lage waren.

 

„Die werden es mal leichter haben als wir“, sagte Jakob und stöhnte. Zusammen mit Adam saß er auf der Bank vor seinem halbfertigen Haus und streckte die Beine aus. Noch in der Dämmerung hatten sie mit der Arbeit begonnen, und wie an jedem Tag, seit sie an einem Abend im Mai des Jahres 1749 ihr Ziel erreicht hatten, waren es auch diesmal wieder Stunden voller Arbeit gewesen. Harter Arbeit, nicht weniger hart als im Oderbruch, so dass manch einer der Kolonisten sich schon zu der Bemerkung hatte hinreißen lassen, wenn er geahnt hätte, was hier auf ihn wartete, hätte er auch im Bruch bleiben können. Häuser zu bauen war dabei fast noch das Geringste, weit härter war die Anlage der Felder. „Ein Ingenieur hat eure Flächen vermessen“, hatte Johannes Schultze gesagt, der Mann, der ihr Dorfschulze sein sollte. Aber dabei hatte er nicht etwa auf freie Flächen gezeigt, sondern auf Wald. Auf Kiefern und Linden, Birken und Eichen, von denen etliche so mächtig waren, dass zwei Männer ihren Stamm kaum umfassen konnten. Und 

diese Bäume sollten sie roden. Mussten sie roden, wenn sie die Felder anlegen wollten, auf die sich ihre Existenz gründen sollte. Doch nicht nur diese Knochenarbeit war es, die etlichen der Neuankömmlinge Tränen in die Augen getrieben hatte, fast mehr noch war es der Boden ihrer künftigen Felder: Sand, Sand und nichts als Sand, überhaupt nicht vergleichbar mit den fruchtbaren Böden in ihrer alten Heimat. Den Namen „Streusandbüchse des Heiligen Römischen Reiches“ trug diese Gegend nicht umsonst, und ausgerechnet hier sollten sie sich ihr neues Leben aufbauen! Die Verteilung der Grundstücke hatten sie mittels eines Losentscheids vorgenommen, eine für alle in höchstem Maße aufregende Angelegenheit. Denn wenngleich dieses Verfahren auch am gerechtesten war, so waren die Konsequenzen für die Betroffenen gleichzeitig sehr groß, und das nicht nur für sie selbst, sondern ebenso für die nachfolgenden Generationen. „Das schaffen wir nie!“, hatten einige gestöhnt, nachdem sie sich ein Bild von dem Land gemacht hatten, das ihnen zugefallen war. Aber dennoch hatten alle mit der Arbeit begonnen. Doch hätten sie eine Alternative gehabt?

 

Vom Dorfende kam Georg Spieß angelaufen und ließ sich neben Jakob und Adam auf der Bank nieder. Einen Glückspilz nannten ihn alle, war er mit dem Bau seines Hauses doch schon weiter als alle anderen. Ein Teil des Fachwerks war bereits mit Lehm ausgekleidet, und am Vortag hatten sie damit begonnen, das Stroh aufs Dach zu bringen. Was bei einer Familie mit sechs Kindern allerdings nicht erstaunlich war, verfügten sie doch über genug Hände zum Anpacken. Auch vier Kinder waren in dieser Zeit eine große Hilfe, und selbst zwei oder auch nur ein einziges, während diejenigen sehr viel schlechter gestellt waren, bei denen es noch keinen Nachwuchs gab. Adam und Ljuba etwa oder Jakob und Clara mit ihrem erst wenige Monate alten Albert. „In den nächsten Tagen schicken sie aus Zehdenick ein paar Bauleute als Hilfe“, sagte Georg Spieß, obwohl er selbst nicht darauf angewiesen war. Anders als Adam. „Der König scheint seine Beamten im Griff zu 



haben“, zeigte er sich angetan von der Nachricht. Wie dringend für ihn und einige andere die Unterstützung war, musste er nicht lange erklären. Auch die Tatsache, dass die Beamten die Nachbardörfer Storkow, Wesendorf und Crewelin verpflichtet hatten, die Aussaat des ersten Jahres für sie zu leisten, bedeutete eine große Hilfe. Zu Jakobi waren die Tage auffallend warm gewesen, was einen langen und strengen Winter erwarten ließ. Wollten sie in dieser Zeit nicht hungern und frieren, stand ihnen noch eine Menge Arbeit bevor, da kam ihnen Hilfe gerade recht. Allem Anschein nach schien auch der König das so zu sehen. Ein Beweis, wie wichtig ihm die Erschließung von neuem Land war.

 

Der nächste Arbeitstag begann gleich nach Anbruch der Dämmerung, und bevor die Sonne über den Wald stieg, erfüllte wieder vielstimmiges Hämmern und Sägen das Dorf. Vom ersten Tag an hatte es sich ergeben, dass Adam und Jakob viele Arbeiten gemeinsam verrichteten, zum einen, weil das Auslosen der Grundstücke Nachbarn aus ihnen gemacht hatte, zum anderen aber auch, weil die Freundschaft zwischen ihnen immer enger geworden war. Ebenso wie die zwischen Clara und Ljuba, die sich seit dem Oderbruch ebenfalls beständig nähergekommen waren. Oft sah man sie zusammen, und seit einiger Zeit gehörte auch Elsa dazu, die Jakob und Clara für ihren Haushalt verpflichtet hatten. Eine Mischung aus Magd und Freundin war sie für Clara seither, die ihr von der Beaufsichtigung ihres Sohnes bis zum Bereiten der Mahlzeiten, der Versorgung der Tiere und vieles andere zur Hand ging. Dass Elsa ihrem Ehemann dabei mitunter heimliche Blicke zuwarf, war Clara nicht entgangen, und anfänglich hatte sie diese Tatsache auch durchaus irritiert. Doch nachdem sie festgestellt hatte, dass Jakob diese Blicke gar nicht bemerkte, hatte sie das Ganze als eine harmlose Schwärmerei einer jüngeren Frau für einen älteren Mann abgetan, als eine unschuldige Wiederholung jener Entwicklung, die sie auch selbst durchlebt hatte. Und der Umstand, dass ihr eigener

Ehemann einer anderen Frau als begehrenswert erschien, machte sie sogar noch ein wenig stolz.

 

Der Baum, den zu fällen sich Jakob und Adam an diesem Morgen vorgenommen hatten, war eine Linde mit einer starken Krone und einem dicken Stamm. Und weil sie dort stand, wo Adam sein Feld anlegen wollte, musste sie weg. Aufmerksam betrachtete er die Linde und machte sich auch von ihrem Umfeld ein Bild. Wer einen Baum fällen wollte, musste umsichtig vorgehen. Verhakte sich der Baum beim Fallen in einem anderen, war Freischlagen angesagt, was sehr gefährlich werden konnte. Außerdem musste genügend Platz sein, um den gefällten Baum abtransportieren zu können. „Hier sollten wir ansetzen“, sagte Adam und deutete auf eine Stelle am Stamm. Jakob stimmte ihm zu und rief seinem Freund ein aufmunterndes „Na, dann fang mal an!“ zu. Den ersten Schlag führte Adam. Kraftvoll drang das Blatt in den Baum, danach war Jakob an der Reihe und immer so weiter im Wechsel, wodurch die Kerbe sich rasch vergrößerte. Den angebrochenen Ast an einem anderen Baum entdeckten sie erst, als die Linde sich zur Seite neigte, doch da war es bereits zu spät. Die Krone drückte auf den Ast, worauf dieser brach und herabstürzte. Genau an die Stelle, wo Adam stand. Mit einem Sprung versuchte der noch auszuweichen, doch Zweige streiften seine Schulter, so dass er zu Boden ging. Im nächsten Moment war Jakob bei ihm. „Bist du verletzt?“, stieß er erschrocken hervor. Adam tastete nach der Stelle, an der die Zweige ihn getroffen hatten und verzog schmerzhaft das Gesicht. „Ja, aber offenbar nicht sehr“, presste er hervor. Erleichtert atmete Jakob auf. Im Jahr zuvor war ein Knecht vom Schulzen durch einen solchen Unfall zum Krüppel geworden. Eine kleine Unachtsamkeit nur, und schon war es geschehen.

 

Ljuba erschrak, als die beiden Männer heimkehrten. An Adams Kleidung klebte Blut, er hinkte, und Jakob musste ihn stützen. Alles auf



einmal wollte sie wissen, und erst als klar war, dass Adams Verletzung nicht schwer war, beruhigte sie sich. Jakob packte mit an, als sie ihn auf sein Bett legte und die Wunde versorgte. Adam biss die Zähne zusammen. „Ein Tag, dann ist alles wieder gut“, sagte er und versuchte zu lächeln.  Jakob runzelte die Stirn. „Das wird wohl ein wenig länger dauern“, zeigte er sich überzeugt. ‚Und das ausgerechnet jetzt‘, wollte er hinzufügen, ‚wo der Winter näher rückt und noch so viel zu tun ist.‘ Doch er unterließ es, wusste Adam doch selbst, wie es um die Arbeit stand. „Jetzt brauchen wir erst einmal eine Lösung für die nächsten Tage“, sagte er stattdessen.

 

Kurz darauf stand Jakob Elsa gegenüber. Er hatte sie auf der Wiese am Döllnfließ gefunden, wo sie gerade Wäschestücke zum Bleichen ausbreitete. Wie stets zeigte sie ihm ihr freundlichstes Gesicht, das jedoch einem Ausdruck von Sorge wich, als er auf den Unfall zu sprechen kam. In knappen Worten schilderte er ihr, was geschehen war, und beschrieb seinen Plan. „Adam wird bald wieder in Ordnung sein. Doch weil die Zeit drängt, brauchen wir vorübergehend Hilfe.“ Elsa sah ihn erwartungvoll an. „Ich hab an Kaspar Wegun gedacht“, fuhr Jakob fort, „den Zaunsetzer vom Bergluch. Wir haben uns kürzlich kennengelernt, und er war sehr freundlich zu mir. Kaspar hat mehrere Söhne, starke Kerle, vielleicht kann er einen davon für eine oder zwei Wochen entbehren. Geh zum Bergluch und frag ihn. Clara wird deine Arbeit …“ - „Aber ich kenn den Weg nicht“, unterbrach sie ihn. „Ich war erst einmal dort, vor einiger Zeit mit meinem Vater. Ich weiß nicht, ob ich …“ - „Du wirst den Weg schon finden“, fiel Jakob ihr nun seinerseits ins Wort. „Du brauchst nur der Landstraße nach Zehdenick zu folgen, bei den vier alten Eichen in der Senke biegst du nach rechts ab, an der nächsten Gabelung nimmst du den linken Weg, und wenn du den Wald verlässt und auf eine große Wiese triffst, kannst du die Häuser schon sehen. Du kannst dich gar nicht verlaufen. Und wenn du dich beeilst, bis du um die Mittagszeit zurück. Am besten gleich mit einem der Söhne.“

 

Elsas Pulsschlag hatte sich beschleunigt. Sie war aufgeregt. Jakob brauchte Hilfe, und sie hatte er gebeten, ihm zu helfen. Der Mann, dem sie so viel verdankte. Der zu einem Halt für sie geworden war, seit sie sich kennengelernt hatten. Jetzt gab es eine Gelegenheit, ihm etwas zurückzugeben, und deshalb beantwortete sie seine Bitte mit einem Ja. Und das, obwohl sie sich unwohl dabei fühlte. Aber wie hätte sie in dieser Notlage auch sagen können, dass sie den Weg nicht gut kannte und dass ihr der Wald Angst machte. Am Ende würde er vielleicht eine andere schicken. „Ich gehe“ sagte sie deshalb. Die richtige Entscheidung, wie ihr sein Blick bestätigte.

 

Kurz darauf lief sie die Dorfstraße hinunter und bog auf den Weg nach Zehdenick ein. Schon mehrmals war Elsa diesen Weg gegangen, aber stets als Begleiterin, weshalb sie sich den Verlauf nur unzureichend eingeprägt hatte. An vier alte Eichen in einer Senke konnte sie sich nicht erinnern, doch Jakobs Worten zufolge würde sie die Stelle schon finden. Und in der Tat stand sie wenig später vor den vier Bäumen, die so alt schienen, als hätte der Herrgott sie gleich nach der Erschaffung der Welt an diese Stelle gesetzt. Wie Jakob es ihr beschrieben hatte, bog sie nach rechts ab und lief weiter, bis bald darauf zu ihrer Linken ein schmaler Weg abzweigte. War das die Gabelung, von der er gesprochen hatte? Unschlüssig blieb sie stehen. Unter einer Gabelung stellte sie sich zwei gleichwertige Wege vor, aber musste das zwangsläufig so sein, oder war es auch anders möglich, der eine Weg breit und der andere ein schmaler Pfad? Sie überlegte, lief dann ein paar Schritte nach links, kehrte auf den Hauptweg zurück, überlegte erneut und entschied sich, dass dies tatsächlich die von Jakob gemeinte Gabelung sei, deshalb bog sie nach links ab. Nachdem sie eine Weile gegangen war, gelangte sie an eine weitere Gabelung und nahm kurzerhand den Weg, der ihr vom Gefühl her der richtige zu sein schien. Wenig später musste sie ein paar umgestürzten Bäumen ausweichen, und als sie sich anschließend umschaute und die Fortsetzung ihres ursprünglichen Weges suchte, konnte sie diesen nicht finden. Sie blieb stehen und überlegte. Plötzlich knackte es im Unterholz, und sie zuckte zusammen.



Ein Tier! Vielleicht auch einer jener Geister, von denen die Frauen in der Spinnstube gesprochen hatten. Im Wald gibt es Wesen, hatten sie gesagt, die sind halb Mensch und halb Tier, und andere sind riesig groß und haben messerscharfe Zähne! Bisher war sie sich sicher gewesen, solche Geschichten seien alle nur erfunden. Aber wenn sie nun nicht erfunden waren? Wenn sie stimmten, zumindest zum Teil?

 

Angst kroch hoch in Elsa, und von einem Augenblick auf den anderen wollte sie nur noch nach Hause. Wenn sie schon den Weg zu dem Zaunsetzer nicht mehr fand, so wenigstens den Rückweg  zu ihrem Dorf. Natürlich würde Jakob von ihr enttäuscht sein, und sie hätte sich blamiert, aber in diesem Moment war ihre Angst stärker als alles andere. Sie begann zu laufen. Dichtes Buschwerk zerkratzte ihr Arme und Beine, mehrmals stolperte sie, stand auf und lief weiter, meinte schon, eine Stelle wiedererkannt zu haben, nur um diese Annahme gleich darauf wieder zu verwerfen. Wenn wenigstens die Sonne ihr die Richtung gewiesen hätte, doch die war hinter Wolken verschwunden. Auf einmal entdeckte sie einen Zaun, und ein Gefühl der Erleichterung durchflutete sie. Sie kannte den Zaun. Sie hatte ihn gesehen, als sie mit ihrem Vater zwei Stuten zum Decken nach Bergluch gebracht hatte. Der Zaun, hatte ihr damals jemand erzählt, sei so lang, dass man mehrere Tage benötigen würde, ihn abzulaufen. Vor mehr als hundert Jahren habe ein Kurfürst ihn bauen lassen, um das Wild daran zu hindern, aus seinem Gebiet in das eines Nachbarn zu wechseln. Zaunsetzer sollten diesen Zaun unterhalten, darunter einer in Bergluch. Und genau dorthin führte der Zaun, den sie nun vor sich sah. Schon spürte Elsa neue Kraft in sich aufsteigen, und wäre da nicht eine Wurzel gewesen, in der ihr Fuß sich verhakte, so hätte sie ihr Ziel auch erreicht. So aber durchzuckte sie ein heftiger Schmerz, sie stürzte zu Boden und blieb liegen. Und während sie auf einen Ausweg aus ihrer Lage sann, brach es auf einmal aus ihr heraus, und sie begann zu schluchzen. Eine Weile lag sie so da in ihrem Schmerz und in ihrer Angst, dann hörte sie auf einmal ein Geräusch.