16. Kapitel

 

(Ende des Sommers 1749, Kurtschlag) 

 

 

Die Sonne hatte ihren höchsten Stand bereits ein gutes Stück überschritten, als Jakob zunehmend unruhiger wurde. Elsa hätte längst zurück sein müssen, allein oder mit einem der Söhne des Zaunsetzers. „Geh und schau nach, ob ihr etwas zugestoßen ist!“, drängte Clara, als sie merkte, dass er es nicht länger aushielt. „Du hast recht“, entgegnete Jakob und war gleich darauf aus dem Haus. Mit schnellen Schritten folgte er dem Weg, den er Elsa beschrieben hatte. Mehrmals blieb er stehen und lauschte. Vielleicht hatte sie sich ja trotz seiner Wegbeschreibung verirrt und stand nun mitten im Wald und rief um Hilfe. Aber kein Rufen war zu hören, einzig der Wind rauschte in den Wipfeln. Als er in einiger Entfernung das Gehöft des Zaunsetzers bereits ausmachen konnte, kam ihm einer der dortigen Knechte entgegen. „Ist sie hier?“, rief Jakob ihm schon von weitem zu, ohne in der Aufregung zu sagen, wen er meinte. Doch der Knecht wusste Bescheid. „Sie ist bei den Frauen“, rief er zurück. Jakob spürte, wie ihm ein Stein vom Herzen fiel. Kurz darauf stand er Elsa gegenüber. Sie saß auf einer Bank, ihr rechter Fuß war mit einem feuchten Tuch umwickelt und ruhte auf einem Schemel. Hatte Jakob damit gerechnet, dass sie ihm Vorhaltungen machen würde - sie habe ihm ja gesagt, dass sie den Weg nicht kannte! -, so sah er sich in dieser Annahme getäuscht. Nicht nur, dass sie ihm keine Vorhaltungen machte, sie schaute ihn sogar schuldbewusst an. „Ich … ich habe mich … verlaufen“, stammelte sie. Und wiederholt von Selbstvorwürfen unterbrochen, berichtete sie, wie sie dem Weg gefolgt war, dann aber den richtigen Abzweig verfehlt hatte und danach umhergeirrt war, bis sie irgendwann den Zaun entdeckt hatte. „Alles wäre gut geworden, ich wäre einfach dem Zaun gefolgt und hätte das Gehöft erreicht, wenn sich mein Fuß nicht in einer verdammten Wurzel verfangen hätte!“

 

Ihre Verzweiflung über das Missgeschick und wie sie anschließend schluchzend dagesessen hatte, ließ sie aus und kam stattdessen gleich auf ihre Retter zu sprechen, die beiden Söhne des Zaunsetzers, die sich gerade auf dem Weg zu einer Stelle befunden hatten, die ausgebessert 

werden musste. Wilderer, so hatten sie ihr erzählt, hätten ein Loch in den Zaun gemacht und gleich dahinter eine Falle aufgestellt, so etwas käme hier des öfteren vor. Und bei dieser Gelegenheit hatten die beiden sie gefunden. „Sie haben mich hierher gebracht. Und Getrud“ - Elsa deutete auf die Magd an ihrer Seite - „hat meinen Fuß versorgt.“ - „Kannst du denn laufen, wenn ich dich stütze?“, erkundigte sich Jakob. Hatte Elsa gerade noch verlegen den Blick nach unten gerichtet, so hob sie bei den Worten ‚wenn ich dich stütze‘ ruckartig den Kopf. Zu ruckartig, wie ihr noch im selben Augenblick bewusst wurde, doch schien Jakob die schnelle Bewegung nicht aufgefallen zu sein. „Ja“, sagte sie, „ja, ich kann laufen.“ Jakob zeigte sich erleichtert und wandte sich dann dem Zaunsetzer zu, der sich - angelockt von dem kleinen Auflauf auf seinem Hof - der Gruppe inzwischen hinzugesellt hatte. In knappen Worten schilderte er ihm den Grund für Elsas und seine Anwesenheit und kam auf den Unfall seines Freundes zu sprechen. Adam sei hart im Nehmen, versicherte er, sein Ausfall werde bestimmt nicht lange dauern, doch wegen des bevorstehenden Winters dränge die Arbeit, deshalb wolle er wissen, ob der Zaunsitzer ihm für kurze Zeit einen seiner Söhne oder einen Knecht überlassen könne. Der Zaunsetzer zog die Stirn kraus. „Nicht sofort“, sagte er nach kurzer Überlegung. „Erst muss der Zaun ausgebessert sein. Aber das wird nicht lange dauern. Spätestens morgen Nachmittag kann ich dir jemanden schicken.“ Jakob zeigte sich erfreut. Er dankte seinem Gegenüber, und nachdem sie sich voneinander verabschiedet hatten, gab er Elsa das Zeichen zum Aufbruch. Ein stechender Schmerz durchzuckte ihren Fuß, als sie aufstand und auf Jakob zuhinkte. Ob sie sich den Rückweg denn wirklich zutraue, fragte er besorgt. „Ja“, antwortete sie. Und das tat sie sehr schnell, denn auf keinen Fall wollte sie sich das, was vor ihr lag, entgehen lassen.

 

Zuerst schweigend liefen Jakob und Elsa nebeneinander her, so schnell es Elsas Zustand erlaubte. Ihr Arm lag auf seiner Schulter, er hatte den Arm um ihre Hüfte gelegt und stützte sie so gut, wie das auf den 



schmalen Waldwegen möglich war. Schnell kamen sie nicht voran. Hatte Jakob mit einem längeren Rückweg bereits gerechnet, so musste er feststellen, dass seine Annahme noch zu optimistisch gewesen war. Und das zu diesem Zeitpunkt, wo jeder Tag zählte. Eine Situation, die ihn zutiefst beunruhigte. Von ganz anderer Art waren dagegen die Gedanken, die Elsa bewegten. Was für sie zählte in diesem Moment, war allein die Nähe zu dem Mann, der neben ihr lief. Wie kräftig sich seine Schultern anfühlten, wie Vertrauen erweckend seine Hand war, so fest und gleichzeitig so voller Gefühl. Als er ihr über einen Ast half, der quer über den Weg lag, ging ein Ruck durch ihren Fuß, und unwillkürlich stöhnte sie auf. Gleich darauf begann er mit ihr zu sprechen, als habe ihr Stöhnen ihm die Zunge gelöst. Dass es ein Fehler gewesen sei, sagte er, sie allein gehen zu lassen, dass er sich selbst auf den Weg hätte machen sollen oder einen anderen schicken … Worauf sie ihm energisch ins Wort fiel und selbst alle Schuld auf sich nahm: der falsche Weg … die Wurzel … und dass ein dichter Wald ihr Angst mache … „Beim Wasserholen hat die Jüngste von Georg Spieß vor ein paar Tagen von einem schwarzen Hund erzählt. Eine unheimliche Geschichte.“ - Jakob wandte ihr den Kopf zu. „Von einem schwarzen Hund?“

 

Im Wald raschelte es, und als sie in die Richtung blickten, entdeckten sie zwischen den Bäumen eine Rotte Wildschweine. Plötzlich hob eines der Tiere den Kopf, und im selben Augenblick stoben alle davon. „Ein schwarzer Hund, der einen Schneidergesellen verfolgt hat“, nahm Elsa das Thema wieder auf. „In Crewelin soll es gewesen sein, spät am Abend. Der Geselle war für seinen Meister in Zehdenick, und auf dem Heimweg begegnete ihm kurz hinter der Stadt dieser schwarze Hund. Riesig groß soll er gewesen sein, und glühende Augen soll er gehabt haben, weshalb der Geselle sich fürchterlich erschreckt hat und weglief. Aber der Hund blieb immer hinter ihm, bis sie in Crewelin ankamen. 

Dort hat er sich vor das Haus des Gesellen gesetzt und ist die ganze Nacht nicht gewichen. Und am nächsten Morgen“ - sie stockte, und er spürte, dass ihr die Sache naheging - „war der Geselle tot!“

 

Ein schwarzer Hund - der Teufel! Jakob kannte solche Berichte auch aus seiner Heimat. „Adam hat vor einiger Zeit etwas Ähnliches berichtet“, fing er an, und dann erzählte er nicht nur von diesem einen Fall, sondern gleich noch von einem anderen, worauf sie ein paar weitere, ebenso unheimliche Geschichten hinzufügte. Nachdem beide zuerst schweigend gelaufen waren, hatte sich nun ein reger Wortwechsel zwischen ihnen entwickelt. Elsa genoss die Zeit sehr, und insgeheim wünschte sie, der Weg mit Jakob würde endlos sein. Doch er war nicht endlos. Irgendwann tauchte Curthschlag vor ihnen auf, und wenig später bogen sie in die Dorfstraße ein. Als Clara aus dem Haus trat, versetzte es Elsa einen Stich. Jakob führte sie zu einer Bank, sie nahm den Arm von seiner Schulter und ließ sich nieder. Dass der Schmerz im Fuß stärker geworden war, nahm sie nur beiläufig zur Kenntnis. Wie abwesend beantwortete sie Claras Fragen, was denn geschehen sei und wie es ihr gehe, während sie in Gedanken noch immer auf dem gemeinsamen Rückweg war. Ob er etwas gemerkt hatte? Ob ihm die Berührungen ebenso gut getan hatten wie ihr? Oder war er froh, den Weg endlich hinter sich zu haben und sich nun wieder seinen Aufgaben widmen zu können?

 

Eine Stunde später saß Elsa noch immer auf der Bank. Clara hatte mit Ljuba beraten, was für den Fuß zu tun sei, und Ljuba hatte zu einem Umschlag mit einem Aufguss aus Kräutern geraten. Danach hatten die beiden Frauen mit dem Zubereiten des Essens begonnen, und bald darauf saßen sie alle gemeinsam um einen Tisch herum, löffelten Suppe aus einer großen Schüssel und aßen Brot dazu. Auch Adam war jetzt dabei, dem die Bewegungen nach dem morgendlichen Unfall noch



sichtlich schwer fielen. Zwei Unfälle an einem Tag waren eine ausgesprochene Pechsträhne,  entsprechend war die Stimmung denn auch gedämpft, und die Gespräche verliefen einsilbig. Was Elsa betraf, so waren es bei ihr indes nicht die Rückschläge im Baugeschehen und bei der Vorbereitung der Felder, die ihr zu schaffen machten. Also das, worüber Jakob sich Gedanken machte. In ihrer Brust wühlten Gedanken von ganz anderer Art. Immer wieder wanderten ihre Augen zu Clara, wie sie neben Jakob saß und mit jeder Geste und jedem Blick zum Ausdruck brachte, dass dieser Mann ihr gehörte. Und dazu dachte sie an die Neuigkeit, die Ljuba ihr verraten hatte, als sie mit dem Aufguss für ihren Fuß beschäftigt gewesen war: Clara war zum zweiten Mal schwanger.