18. Kapitel

 

(Februar/März 1750, Kurtschlag) 

 

 

Maria! Ausgerechnet Maria erzählte die Geschichte! Die Ehefrau von Heinrich Müller. Eine für gewöhnlich zurückhaltende Person. So zurückhaltend, dass mancher, der sie nicht näher kannte, sie schon für dumm hielt, was jedoch keineswegs der Fall war. Dass sie auch anders konnte, bewies die Geschichte ihrer Ehe. „Damals wollte ich Heinrich haben, um jeden Preis. Er war nicht der kräftigste in unserem Dorf, nicht der schönste, und der schlaueste war er auch nicht. Aber er gefiel mir. Und deshalb wusste ich, solange ich denken konnte: den oder keinen!“ Sie machte eine Pause und ließ ihre Blicke von einer zur anderen wandern - zu Clara, Ljuba und Elsa, die ihr gegenüber auf der Bank hinter dem großen Eichentisch Platz genommen hatten, zu Elfriede, der Ehefrau des Schulzen, und zu Mathilde, der Frau von Peter Bremm. Nicht zum ersten Mal saßen die sechs Frauen im Schulzenhaus zusammen, jede von ihnen mit ein paar Kleidungsstücken vor sich, die geflickt oder geändert werden mussten. Eine Beschäftigung für die kalte Jahreszeit, wenn die Arbeit auf den Höfen weitgehend zum Erliegen gekommen war. So wie in diesem Jahr.

 

„Da Heinrich mich damals kaum beachtete“, nahm Maria ihre Erzählung wieder auf, „musste ich ihn irgendwie auf mich aufmerksam machen. Doch da ich nicht wusste, wie ich das anstellen sollte, hab ich mich meiner Großmutter anvertraut. Sie war eine kluge Frau. Sie hat mir einen Rat gegeben, und den hab ich befolgt.“ Die anderen Frauen hatten in ihrer Arbeit innegehalten und blickten gespannt die Rednerin an. „An einem Abend, den sie für mich bestimmt hatte, hab ich mich ausgezogen, hab meinen Körper mit Honig eingerieben und mich anschließend in einem Haferfeld gewälzt. Meine Schwester war dabei. Die hat anschließend die Haferkörner von meiner Haut abgelöst, die daran kleben geblieben waren, und in ein Säckchen gefüllt. Zu Hause hab ich die Körner dann gemahlen und zu einem Küchlein verbacken, das ich am nächsten Tag Heinrich gegeben hab. Er war gerade auf dem Feld. Ich hab so getan, als sei ich zufällig vorbeigekommen und hab ihm das Küchlein geschenkt. Noch während ich mit ihm sprach, hat er

es gegessen.“ - „Und?“, fragten drei Frauen gleichzeitig. Maria verzog säuerlich das Gesicht. „Nichts! Es hat nicht gewirkt! Als ich Heinrich das nächste Mal begegnete, war er genau so zu mir wie immer. Nichts hatte sich geändert. Mit anderen hat er gesprochen, aber mich hat er kaum beachtet.“

 

Eine Tür schlug im Haus, und alle fuhren erschrocken zusammen. Wie Geisterstimmen hörte es sich an, wenn der Wind um das Haus pfiff. Am Morgen hatte es wieder zu schneien begonnen, und auf dem Hof reichte der Schnee den Kindern bereits bis zum Knie. Um zu den Stallungen zu gelangen, hatten die Knechte schon zum dritten Mal an diesem Tag einen Weg freischaufeln müssen. „Aber heute bist du Heinrichs Frau“, warf Clara ein. Da sie unter sich waren, hatte sie ihre Kleider gelockert. Anders als beim ersten Kind machte ihr die Schwangerschaft diesmal zu schaffen. „Ja, das bin ich“, sagte Maria lächelnd. „Mein erster Versuch war gescheitert, aber beim zweiten Mal ist es mir gelungen.“  Diesmal war es Elsa, die fragte: „Und wie hast du das geschafft?“ Seit Maria mit ihrer Geschichte begonnen hatte, hielt Elsa Nadel und Faden still in der Hand und hatte den Blick unverwandt auf die Erzählerin gerichtet. Jakob! Maria sprach von Heinrich, aber ihr, Elsa, ging es um Jakob. Er war es, um den ihre Gedanken kreisten, und das in einer Heftigkeit, die beständig stärker geworden war. Hatte sie zunächst gedacht, es wäre allein die Dankbarkeit für den Mann, der ihr aus einer schrecklichen Lage herausgeholfen hatte, und hatte sie später ihr Verhältnis zu ihm als Schwärmerei abzutun versucht, so hatte ihr spätestens die Begebenheit im Wald vor einigen Monaten gezeigt, dass sie sich mit diesen Annahmen selbst betrogen hatte und dass da mehr war in ihr. Dass sie etwas für ihn empfand, obwohl sie wusste, dass er mit einer anderen Frau Tisch und Bett teilte. Dass er das auch noch gern tat, wusste sie nur zu gut, hatte sie als Magd im Haus von Jakob und Clara doch mehr Einblicke in deren Leben, als es den beiden bewusst war. Jakob liebte Clara nach wie vor, auch wenn es gewiss nicht mehr die Liebe des Anfangs war, aber da gab es noch immer viel, was beide 



miteinander verband. Nicht zuletzt das Kind, das gerade in Clara heranwuchs. Und dieses Wissen versetzte ihr Stiche, so dass sie inzwischen zu der Überzeugung gelangt war, dass sie diesen Zustand auf Dauer nicht würde aushalten können. „Du sollst nicht ehebrechen!“, so stand es geschrieben, und deshalb hatte sie gegen ihre Gefühle anzukämpfen versucht. Doch vergeblich. Die Gefühle waren da und ließen sich nicht einfach verdrängen. Einmal mehr hatte sie es gespürt, als Jakob mit Adam bei der Wolfsjagd gewesen war und sie drei Tage um ihn gebangt hatte. Drei Tage, in denen sie ihn schon als ein Opfer der Wölfe gesehen hatte, der klirrenden Kälte oder einer fehlgeleiteten Kugel. Und dabei leistete er ihrem Begehren nicht einmal Vorschub. Zwar behandelte er sie wie ein Familienmitglied und war ihr stets zugewandt, aber das war es nicht, was sie wollte. Für sie ging es um mehr, und das trotz Clara, die ihr dabei im Weg stand. Doch wenn Maria bei ihrem Heinrich Erfolg gehabt hatte …

 

„Du willst wissen, wie ich es gemacht habe?“, nahm Maria Elsas Frage auf und sah sie verschmitzt an. „Mit einem Liebestrank. Eine Frau aus dem Nachbardorf hat mir geholfen.“ - „Eine Hexe!“, entfuhr es Mathilde. Der verschmitzte Blick in Marias Gesicht verschwand augenblicklich. Hexen war ein ernstes Thema. „Nein, das war sie nicht. Und sie war auch sehr darauf bedacht, dass niemand sie für eine Hexe hielt, hatte man doch die Mutter ihrer Großmutter mit einer solchen Anklage auf den Scheiterhaufen gebracht. Die hatte einer Frau geholfen, die ebenfalls einen Mann begehrte. Die beiden fanden auch tatsächlich zueinander, sie heirateten, allerdings wurde es keine gute Ehe. Und als der Mann später durch einen Zufall erfuhr, dass seine Frau ihm einen Trank ins Essen gemischt hatte, ging er zum Richter und erzählte es ihm, worauf der Richter die Frau festnehmen ließ. Auf der Folter hat sie gestanden, und anschließend hat man sie dann verbrannt. Es war die letzte Verbrennung einer Hexe in unserer Gegend. Aber die Erinnerung an dieses Geschehen war der Grund, weshalb die Frau, die ich um Hilfe gebeten hab, am Anfang sehr zurückhaltend war. Ich 

musste lange in sie dringen, bis sie sich endlich bereit erklärte.“ Die Worte ‚Hexe‘ und ‚Scheiterhaufen‘ hatten neben Elsa auch die anderen Frauen in ihrer Arbeit innehalten lassen. Alle Augen hingen an Maria. „Die Frau benötigte verschiedene Kräuter für den Liebestrank. Einige davon sollte ich besorgen. An Liebstöckel und Eisenkraut kann ich mich noch erinnern“ - sie machte ein nachdenkliches Gesicht - „und dann waren da noch Efeu und Malve … und Alraun, ja Alraun wollte sie auch haben, aber das hat sie selbst besorgt. Ich sollte die Kräuter während der Nacht pflücken, was nicht einfach war, denn ich musste mich heimlich aus dem Haus stehlen. Die restlichen Bestandteile hat sie als ihr Geheimnis gehütet. Ich hab nur noch zufällig von Schwalbenblut erfahren und vom Herz einer Fledermaus.“

 

„Sie hat dir also zu diesem Trank verholfen, und der hat bei deinem Heinrich dann auch tatsächlich gewirkt“, fasste Mathilde das Gesagte zusammen. „Genau so war es“, bestätigte Maria. „Eine Magd in seinem Haus hat ihm mehrmals Tropfen von dem Trank in seinen Wein gemischt, und ein paar Monate später waren wir ein Paar.“ 

 

Kurz herrschte Stille in dem Raum, und alle hingen ihren Gedanken nach. Während Maria gesprochen hatte, war Elsa zunehmend unruhiger geworden. Dass es Liebestränke gab, war ihr bekannt. Aber noch nie hatte sie Näheres erfahren oder von jemandem gehört, der Gebrauch davon gemacht hatte. „Was sind das für Frauen, die sich damit auskennen?“, durchbrach sie das Schweigen, wobei sie sich bemühte, ihrer Stimme einen beiläufigen Klang zu geben. Jetzt mischte sich auch Elfriede in das Gespräch. „Solche Frauen gibt es bei uns auch“, sagte sie in einem Tonfall, als sei es die selbstverständlichste Sache der Welt. Als Ehefrau des Schulzen lebte sie schon lange in der Gegend und kannte sich aus. „Ich weiß von der Frau eines Teerschwelers. Sie lebt mit ihrer Familie in einer armseligen Hütte im Wald. Sie schlagen Holz für ihre Meiler, und wenn nicht mehr genug da ist, wechseln sie an einen anderen Ort. Kürzlich hab ich zufällig mitangehört, wie der Hirt 



einem Knecht erzählt hat, dass sie sich in unserer Gegend aufhalten. Ende letzten Jahres sollen sie sich hier eine neue Hütte gebaut haben.“ Clara legte das Leinenhemd beiseite, mit dem sie gerade zugange war. „Ich kenne eine Frau, die bei der Teerschwelerin war. Nicht weil sie einen Mann auf sich aufmerksam machen wollte. Sie lebte bereits seit einigen Jahren mit ihm zusammen, aber sie hatten noch immer keine Kinder, worüber ihr Mann sehr wütend war. Er hat sogar gedroht, sie aus dem Haus zu jagen, wenn sie nicht bald ein Kind haben würde. Daraufhin ist sie aus Verzweiflung zu der Teerschwelerin gegangen.“ - „Und konnte die ihr helfen?“, erkundigte sich Mathilde. Clara nickte. „Ein halbes Jahr später wurde ihr Bauch rund, und als dann auch noch ein Junge zur Welt kam, war der häusliche Frieden wiederhergestellt.“

 

Elsa hatte alles Gesagte aufgesaugt wie ein Schwamm. Es gibt eine Frau, die sich mit Liebestränken auskennt … Sie hält sich in unserer Gegend auf … Der Hirte weiß Bescheid … Ihr war, als hätte sich gerade ein Tor für sie geöffnet. Wenn Jakob nicht allein zu ihr fand, dann gab es hier eine Möglichkeit für sie, ihn auf sich aufmerksam zu machen. Was Maria gelungen war, dieser grauen Maus, das sollte ihr, Elsa, erst recht gelingen. Ab jetzt würde sie um Jakob kämpfen. Er sollte begreifen, was er an ihr hätte, im Gegensatz zu Clara. Auch die war eine graue Maus, und eine bösartige obendrein. Nicht etwa, dass sie sich ihr gegenüber etwas hätte zuschulden kommen lassen. Nein, das hatte sie nicht getan. Sie war freundlich zu ihr und verhielt sich ihr gegenüber beinahe von Gleich zu Gleich, obwohl sie nur als Magd in ihrem Haus lebte. Aber Clara tat etwas viel Schlimmeres, als wenn sie sie gemaßregelt und unter Umständen sogar geschlagen hätte, wie andere Mägde das mitunter erlebten: Clara nahm ihr den Mann! Clara betrog sie um den Mann, auf den sie einen Anspruch hatte. Den Anspruch der Liebe!