19. Kapitel

 

(Winterende bis Frühling 1750, Umgebung von Kurtschlag) 

 

 

An diesem Abend lag Elsa in ihrem Bett und konnte keinen Schlaf finden. Die Entschlossenheit, die sie noch am Nachmittag bei Marias Bericht verspürt hatte, war verflogen. Sie würde sich einen Liebestrank besorgen, hatte sie sich zunächst gesagt. Doch nachdem die Runde im Schulzenhaus sich aufgelöst hatte und sie wieder allein war und Zeit gefunden hatte, sich das Gesagte noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen, waren ihr plötzlich Zweifel gekommen. Nicht, dass sie Bedenken gehabt hätte, die Frau des Teerschwelers um Hilfe zu bitten. Das war es nicht. Aber ihr stand wieder jener Tag vor Augen, als sie sich auf dem Weg zu dem Zaunsetzer jämmerlich im Wald verirrt hatte. Und nun sollte sie zu der Teerschwelerin gehen und damit zu einer Frau, die ebenfalls mitten im Wald lebte? Was, wenn sie sich abermals verirrte? Dass ihr auch diesmal jemand zu Hilfe kommen würde, davon konnte sie nicht ausgehen. Sie würde im Wald bleiben, ganz allein und mit all den wilden Tieren und Geistern, vor denen sie sich fürchtete. Wenn sie nur daran dachte, liefen ihr schon Schauer über den Rücken, und sie wusste, dass sie ein derartiges Risiko keinesfalls eingehen wollte. Nur - ohne die Teerschwelerin würde es keinen Trank geben, und ohne den Trank bliebe ihr Jakob womöglich für immer versagt. Also doch in den Wald?

 

Lange lag Elsa wach, und erst als der Morgen graute, hatte sie eine Entscheidung getroffen. Sie würde gehen, aber gleichzeitig würde sie dafür sorgen, dass sie den Weg ins Dorf zurück fand. Schneller als gewöhnlich erledigte sie an diesem Tag ihre Pflichten. Sie versorgte die Tiere, holte Wasser und schürte das Feuer, und als sowohl Clara als auch Jakob durch andere Aufgaben abgelenkt waren, suchte sie den Hirten auf. Als sie ihm gegenüberstand und nach der Teerschwelerfamilie fragte, konnte sie ihre Aufregung nur mit Mühe verbergen. Was eine Magd wie sie denn mit diesen Waldmenschen zu tun habe, erkundigte sich der Hirt misstrauisch. Das seien doch unheimliche Gesellen, mit denen sich anständige Menschen möglichst 

nicht abgeben sollten. Elsa stammelte etwas von Teer, den Jakob als Wagenschmiere benötige, was der Hirt ihr zwar nicht abzunehmen schien, aber dennoch gab er Auskunft. Angestrengt versuchte Elsa, sich jedes seiner Worte einzuprägen, jede Richtung, jeden Abzweig und jede auffällige Baumgruppe auf ihrem Weg. Als er geendet hatte, dankte sie ihm, und als sie zu ihrer Arbeit zurückkehrte, tat sie das in dem guten Gefühl, Mut gezeigt und den ersten Schritt erfolgreich hinter sich gebracht zu haben. Nun hieß es nur noch, auf besseres Wetter zu warten, bevor sie sich auf den Weg machen konnte.

 

Wobei Elsa nicht die einzige war, die den Anbruch der wärmeren Jahreszeit herbeisehnte. Auch alle anderen erwarteten ungeduldig das Ende des Winters. Zwar waren die Häuser im letzten Jahr weitgehend fertig geworden, und auch die Anlage der Felder war ein gutes Stück vorangekommen, doch noch immer blieb viel zu tun. Nicht zuletzt mussten die stark geschrumpften Vorräte wieder aufgefüllt werden. Dass die Dorfbewohner die schwierige Zeit nach ihrer Ankunft an dem neuen Ort überhaupt überstanden hatten, war ganz wesentlich der Tatsache zu verdanken, dass ihnen die Amtsleute aus Zehdenick den Anordnungen des Königs entsprechend unter die Arme gegriffen hatten. Nur würden sie das natürlich nicht unbegrenzt tun.

 

Der März war noch nicht zu Ende, als das Wetter umschlug und der Frühling seine Vorboten schickte. Beinahe über Nacht schmolz der Schnee, ein aus südlicher Richtung mild heranwehender Wind trocknete die Wege, und die Natur entfaltete eine Kraft, die die Härten der vergangenen Monate bald vergessen ließ. „Möge das vor uns liegende Jahr für uns alle ein glückliches werden und unserer Gemeinschaft neue Kraft zuwachsen“, hatte der Pfarrer beim letzten Gottesdienst im vergangenen Jahr gebetet, und es gab gute Aussichten, dass sein Wunsch Wirklichkeit werden könnte. Gestärkt wurde die junge Gemeinschaft nicht zuletzt durch drei Geburten, die sich während



der Wintermonate ereignet hatten - die ersten Dorfbwohner, die in der neuen Heimat das Licht der Welt erblickt hatten. Und in absehbarer Zeit standen zwei weitere Geburten an: zum einen bei Ljuba, die voller Vorfreude dem Tag entgegensah, an dem die Liebe zwischen ihr und Adam in einem neuen Leben ihren Ausdruck finden würde. Und zum anderen bei Clara.

 

Es war letzteres Bild, das Elsa immer wieder im Kopf herumging, als sie sich kurz vor Ostern auf den Weg zu der Teerschwelerin machte. Für ihren Besuch hatte sie sich einen Sonntag ausgesucht, jenen Tag, an dem nach göttlichem Gebot die Arbeit ruhen sollte, woran die Bewohner von Curthschlag - soweit nicht Unaufschiebbares dem entgegenstand - sich auch hielten. Auf Bänken vor den Häusern saßen die Frauen und Mädchen zusammen und schwelgten in dem Klatsch, der im Dorfgeschehen reichlich Nahrung fand, während die Männer sich an der „Klosterlauge“ gütlich taten, dem über die Grenzen Zehdenicks hinaus geschätzten Bier aus der dortigen Klosterbrauerei. Und auch die Mägde und Knechte hatten sich versammelt. Sie hockten am Döllnfließ, neckten einander und scherzten, und die Mutigen badeten sogar schon die Füße im kalten Wasser. Für Elsa war dieser Tag eine günstige Gelegenheit, sich heimlich davonzustehlen, und tatsächlich machte sie das so geschickt, dass niemand es bemerkte. Wo der Wald dem Dorf am nächsten war, tauchte sie zwischen den Bäumen ein und wandte sich anschließend in die Richtung, die der Hirt ihr geschildert und die sie sich sorgfältig eingeprägt hatte. Nichts durfte diesmal schiefgehen, auf keinen Fall wollte sie sich ein zweites Mal verirren, weshalb sie den Weg mit Zeichen wie zerbrochenen Zweigen sorgsam markierte. Hatte der Hirt recht, so lebte die Teerschwelerfamilie unweit von Dölln in der Nähe der Landstraße nach Groß Schönebeck. Und so schritt Elsa denn zügig aus, um die Zeit bestmöglich zu nutzen. Ging alles gut, würde niemand im Dorf ihre Abwesenheit bemerken, und bevor Jakob und Clara nach ihr suchten, würde sie wieder zurück sein.

 

Nicht einmal eine Stunde war vergangen, als sie jenseits einer kleinen Lichtung, halbverdeckt unter Bäumen, die Hütte des Teerschwelers vor sich sah. Erleichterung machte sich in ihr breit, dass sie das Gesuchte gefunden hatte. Angestrengt versuchte sie zu erkennen, was sich bei der Hütte tat, als lautes Gebell sie zusammenfahren ließ. Gleich darauf erblickte sie einen Hund von beängstigender Größe, der von der Hütte her geradewegs auf sie zuhielt. Schon wähnte sie sich als Opfer seiner Zähne, als ein scharfer Pfiff ihn mitten im Lauf anhalten ließ. Aus dunklen Augen funkelte er sie an, die jeden Gedanken an Flüchten schon im Ansatz erstickten. Als sie den Kopf hob, entdeckte sie neben der Hütte einen Mann und zwei Schritte neben ihm eine Frau und drei kleine Kinder. Der Mann näherte sich ihr und blieb auf halber Stecke stehen. „Wer bist du, und was willst du?“, rief er, sichtlich erleichtert, dass er nur eine junge Frau vor sich hatte und nicht eine von jenen Banden, die gelegentlich durch die Wälder streiften und vor Schandtaten nicht zurückschreckten. Elsa stammelte ein paar vor Aufregung unzusammenhängende Sätze, worauf der Teerschweler den Hund zurückrief. „Du brauchst keine Angst zu haben, aber beantworte meine Fragen“, sagte er und näherte sich, bis er direkt vor ihr stand.

 

Elsa musterte ihn. Bisher hatte sie von solchen Waldmenschen nur gehört, gesehen hatte sie noch nie einen, geschweige denn mit einem gesprochen. Der Mann war ein gutes Stück größer als sie und hatte einen kräftigen Körper und starke Hände, die ebenso rußgeschwärzt waren wie sein Gesicht. Auf dem Kopf trug er eine Kappe aus Bärenfell, die er nachlässig zurückgeschoben hatte. Gottlose Gesellen seien diese Menschen, hieß es, die in der Tiefe der Wälder ein Leben fernab jeglicher menschlicher Ordnung führten wie sonst nur Räuberbanden und entflohene Verbrecher. Dabei wurden sie dringend gebraucht, stellten sie doch wichtige Dinge her wie Holzkohle für die Schmiede, Teer zum Abdichten von Schiffsplanken und zum Schmieren von Wagenrädern und Pottasche, ohne die Glashütten kein Glas herstellen konnten.

 



„Ich will zu deiner Frau“, sagte Elsa, nun schon ruhiger. „Ich brauche etwas von ihr, und ich bezahle dafür.“ Aus einem Beutel holte sie ein paar Münzen hervor und zeigte sie ihm. Geld, das sie einige Tage zuvor aus einem Kästchen im Haus ihrer Eltern genommen hatte, als sie bei ihnen zu Besuch gewesen war. Nicht ohne schlechtes Gewissen, aber zum einen war es nicht viel, zum anderen brauchte sie es dringend, und eine andere Möglichkeit, an Geld zu kommen, hatte sie nicht. Die Augen des Teerschwelers ruhten auf den Münzen. Geld konnten arme Menschen wie sie allemal brauchen, weshalb er nach seiner Frau rief. Die war gerade damit beschäftigt, ihr Jüngstes zu beruhigen, dem die fremde Besucherin unheimlich war.

 

Während Elsa wartete, sah sie sich um. Die Hütte der Familie war klein und aus Baumstämmen grob zusammengefügt, die Ritzen waren mit Moos verstopft, das Dach bestand aus mehreren Lagen Schilf. Ein Stück abseits der Hütte entstand gerade ein neuer Meiler aus kienhaltigen Nadelhölzern, die der Teerschweler sorgfältig übereinander schichtete. Später würde er das Holz mit Grassoden abdecken und ein Feuer in dem Meiler entzünden, um den kostbaren Teer zu gewinnen. Ein Vorgang von mehreren Tagen, bei dem der Teerschweler sorgsam darauf achtgeben musste, dass das Holz nur allmählich verkohlte und nicht etwa lichterloh in Flammen aufging, denn dann wäre alle bisherige mühevolle Arbeit mit einem Schlag zunichte gewesen. Dem großen Bedarf an Holz entsprechend war der umliegende Wald bereits teilweise gelichtet, vor allem die schlankeren, leichter zu fällenden Bäume waren der Axt zum Opfer gefallen.

 

Die Frau machte ein paar Schritte auf Elsa zu, an jeder Hand eines ihrer Kinder und eines am Rockzipfel. Wie eine Henne mit ihren Küken, dachte Elsa, und wäre sie nicht so aufgeregt gewesen, sie hätte geschmunzelt. Aber sie fühlte sich unwohl, wollte möglichst schnell ihre Angelegenheit erledigen und gleich wieder verschwinden. 

Dennoch zögerte sie, und erst als die Frau Ungeduld erkennen ließ, kam sie zur Sache: „Es gibt da einen Mann … ich will … er soll sich in mich …“ Obwohl sie sich die Worte zurechtgelegt und unterwegs mehrmals aufgesagt hatte, musste sie stottern. Die Teerschwelerin ließ ihren Blick über Elsa wandern. „Du willst, dass sich ein Mann in dich verliebt, nicht wahr?“ Ein Nicken war die Antwort. „Und dabei soll ich dir helfen.“ Ein weiteres Nicken. „Dafür musst du bezahlen,“ sagte die Frau, worauf Elsa die Münzen hinhielt, die sie bereits ihrem Mann gezeigt hatte. Obwohl es nicht viele waren, begannen die Augen der Teerschwelerin zu leuchten. Mit einer Geste bedeutete sie Elsa, ihr in die Hütte zu folgen. Die zögerte abermals. Und wenn ihr diese unheimlichen Menschen nun etwas antun würden? Doch ohne den Liebestrank wollte sie nicht zurückkehren, also zog sie den Kopf ein und trat durch die Tür. Halbdunkel empfing sie, zu wenig, um mehr ausmachen zu können als einen grob gefügten Tisch, mehrere Schemel und eine Reihe Strohsäcke, die der Familie als Nachtlager dienten. Der Gestank in dem Raum nahm ihr fast den Atem - eine Mischung aus Schweiß und Schmutz, vor allem aber von dem Qualm, der beim Teerschwelen durch jede Ritze drang und gegen den selbst die frische Frühlingsluft keine Chance hatte. Während Elsa neben der Tür verharrte, machte sich die Frau an einer Kiste im hinteren Teil des Raums zu schaffen. Gleich darauf hielt sie ein mit einem blauen Stofffetzen verschlossenes Fläschchen in der Hand und reichte es ihr. „Du hast Glück“, sagte sie. „Vor ein paar Wochen war ein anderes junges Ding hier, so eine wie du, die wollte das Gleiche haben, auch etwas für die Liebe. Das kannst du bekommen, hab ich zu ihr gesagt, aber ich hab es nicht vorrätig, ich muss erst einige Zutaten besorgen. Sie war einverstanden, und wir haben vereinbart, wann sie den Trank abholen sollte. Aus irgendeinem Grund ist sie dann jedoch nicht erschienen. Was sehr ärgerlich für mich war - viel Arbeit und kein Geld.“ Die Teerschwelerin entfernte den Stofffetzen und hielt Elsa das Fläschchen hin, gerade so als ließe sich auf diese Weise erkennen, dass 



sich tatsächlich das Gewünschte darin befand. Die Frau trat ganz dicht an Elsa heran. „Was drin ist, verrate ich dir nicht“, sagte sie in einem verschwörerischen Tonfall, „das ist mein streng gehütetes Geheimnis. Aber glaub mir, etwas Besseres findest du nicht. Gib dem Mann mehrere Tage ein paar Tropfen ins Essen, und du wirst sehen: Die Wirkung ist unwiderstehlich.“ - „Und wie viel …“, hob Elsa an, doch ehe sie den Satz vollenden konnte, hatte die Frau ihr bereits mit einer schnellen Bewegung sämtliche Münzen aus der Hand genommen und reichte ihr im Gegenzug das Fläschchen. „Eigentlich müsste ich dir viel mehr abnehmen. Aber ich will ein junges Ding wie dich nicht rupfen wie eine Gans. Deine Münzen gegen meinen Trank - damit bist du gut bedient, meine Kleine.“

 

Die letzten Worte hatte die Frau nur noch gekrächzt. Offenbar hatte der Qualm ihr über die Jahre arg zugesetzt. Sie räusperte sich nachdrücklich und spuckte den Schleim durch die Tür. Bevor Elsa die Hütte verließ, packte die Teerschwelerin sie am Ärmel und hielt sie fest. „Das Fläschchen hast du nicht von mir bekommen. Ich hab es nie gesehen, und ich hab mit solchen Tränken auch nichts zu tun. Schwör mir beim Leib unseres lieben Herrn Jesus, dass du mich niemals verraten wirst. Unter keinen Umständen,“ - sie rückte so nah an Elsa heran, dass sich ihre Gesichter beinahe berührten -, „selbst unter der Folter nicht!“ Das Wort Folter versetzte Elsa einen Stich und machte ihr einmal mehr deutlich, was sie hier gerade tat. „Ich schwöre“, hauchte sie, krampfte die Hand um das Fläschchen, und ohne sich noch einmal umzusehen war sie im nächsten Moment zur Tür hinaus.

 

Der Rückweg gestaltete sich problemlos. Die Markierungen, die sie hinterlassen hatte, erwiesen sich als eine verlässliche Führung, die sie sicher und ohne dass sie sich auch nur ein einziges Mal verirrte zurück in ihr Dorf brachte. Wie sie schnell feststellte, hatte niemand sie 

vermisst, auch Clara und Jakob schienen ihre Abwesenheit nicht bemerkt zu haben. Als die Zeit gekommen war, wandte sie sich wie an jedem Sonntag den noch anstehenden Arbeiten zu, die sie mit der gleichen Routine verrichtete wie sonst. Und dabei war sie innerlich so aufgewühlt wie selten zuvor, denn endlich konnte sie in Angriff nehmen, was sie geplant hatte. Nun musste der Trank nur noch seine Wirkung entfalten. Beinahe hätte sie ein wenig Mitleid mit Clara empfunden, als sie diese mit ihrem dicken Bauch auf der Bank vor dem Haus sitzen sah, das Gesicht der Abendsonne zugewandt, während ihr Sohn mit einem Stöckchen Löcher in den Sand bohrte. Doch sogleich versagte sie sich dieses Gefühl wieder. Nur eine von ihnen konnte Jakob auf Dauer besitzen, und das würde sie selbst sein. Und wenn Jakob sich dessen noch nicht bewusst war, so würde er das mit Hilfe ihres Liebestranks schon bald begreifen. Was danach mit Clara geschah, wenn er sie erst einmal verstoßen hatte, wer konnte das wissen. Vielleicht würde sich ja ein anderer Mann ihrer annehmen. Und wenn nicht - was ging es sie an?