2. Kapitel

 

(April 1748, Pfalz) 

 

Viel zu langsam vergingen die Stunden, bis die Dämmerung einsetzte. Erleichtert atmete Adam auf, als er feststellte, dass es tatsächlich das Dorf war, das er vermutet hatte. Gleich am Anfang lag das Gehöft von Albert Ney, einem Freund seines Vaters, dem er zusammen mit diesem und seinem Bruder vor einigen Jahren einen Besuch abgestattet hatte. Anlass war die Hochzeit von Alberts ältester Tochter gewesen. Ein Fest, das ihm und zweifellos auch den zahlreichen anderen Gästen in allerbester Erinnerung geblieben war und das vermutlich so viel gekostet hatte, dass man einen ganzen Acker davon hätte kaufen können. Drei Tage wie im Schlaraffenland, mit Bergen von köstlichem Essen wie Stockfisch mit Öl und Rosinen, gesottenem Aal mit Pfeffer, kleinen, in Schmalz gebratenen Vögeln und fetten Gänsen, Pfannkuchen mit Honig und vielem anderen mehr. Gegen den Durst hatte es zwei Fässer Wein gegeben, und Musikanten mit Sackpfeife, Laute und Fiedel hatten zum Tanz aufgespielt. Und dann waren da auch noch die beiden liebreizenden Schwestern gewesen, die, ohne sich um die Blicke der anderen Gäste zu scheren, wie anhängliche Hündchen um ihn und Ludwig herumgestrichen waren. Um Ludwig … Zum wiederholten Mal hatte Adam das Gefühl, eine kalte Hand würde sich um seinen Hals legen und ihm die Luft abschnüren, und schon tauchte wieder das Bild seines Bruders vor ihm auf - von Verzweiflung gepeinigt in einem schauerlichen Verlies, jederzeit damit rechnend, dass der Richter das Urteil über ihn sprach und der Henker … Adam kämpfte den Gedanken nieder und richtete die Augen auf das vor ihm liegende Gehöft. Dass es Albert Ney gehörte, da war er sich sicher. Allerdings sah es ganz anders aus damals.

 

Ein Hirt kam Adam entgegen, der eine Herde Schafe und Ziegen auf die Weide trieb. Misstrauisch beäugte er den Fremden - ein Mann, der nicht in diese Gegend gehörte und aussah, als wäre er unter die Räuber gefallen … Adam wandte sich ab. Neugierige Fragen waren das Letzte, was er in diesem Moment brauchte. Bevor ihn noch ein anderer 

erblickte, steuerte er mit schnellen Schritten auf das Gehöft zu. Das Tor war zu dieser frühen Zeit noch verschlossen, deshalb klopfte er an. Erst beim dritten Versuch öffnete sich eine Klappe in Augenhöhe, und eine Frau, von der nicht mehr zu erkennen war als ein Kopftuch und zwei punktförmige Augen, blickte ihn an. Einen Moment schien sie zu überlegen. „Du bist Adam Lampert, nicht wahr?“, sagte sie. „Ich erinnere mich an dich.“ Adam wollte ihre Worte gerade bestätigen, als die Frau von einer Hand beiseite geschoben wurde und ein neues Gesicht hinter der Klappe erschien. Gleich darauf wurde ein Riegel umgelegt, das Tor ging auf, und Adam konnte eintreten. Ihm gegenüber stand Albert Ney, der Mann, an den er sich noch sehr gut erinnerte, doch wie anders sah er dieses Mal aus! Die einst füllige Gestalt hatte sich in einen hageren Körper verwandelt, auf dem nicht mehr der runde Kopf mit den jugendlich wachen Augen von einst saß, sondern ein von zottigem Haar umrahmtes Gesicht, aus dem die Augen alt und müde hervorstachen. Eine gravierende Veränderung, deren Ursache allerdings nicht schwer zu erraten war, denn auf dem Hof hatte es gebrannt. Wobei weniger das Haupthaus als vielmehr die anderen Gebäude davon betroffen waren: ein Anbau, in dem die Eltern von Albert Ney ihre alten Tage verbrachten, der Schweinestall und ein daran angrenzender Stall, in dem seinerzeit mehrere gut genährte Kühe und zwei Pferde gestanden hatten, sowie vor allem die Scheune am Ende des Hofes, von der nicht mehr übrig geblieben war als eine Reihe verkohlter Balken. Während Adam noch den Blick über den Hof wandern ließ, überkam ihn das Gefühl, er sollte am besten so schnell wie möglich wieder verschwinden, anstatt sein Gegenüber mit seinen Sorgen zu behelligen. Zumindest aber sollte er sich für sein unangekündigtes Erscheinen entschuldigen.

 

 

Aber er entschuldigte sich nicht, und er verschwand auch nicht wieder, sondern saß schließlich - nachdem er zuvor den Grund für sein überraschendes Erscheinen genannt hatte -, neben Albert Ney und 



dessen Sohn Jakob in der Stube an einem Tisch, vor sich eine Schüssel mit einem Rest Haferbrei, der vom Vortag übrig geblieben war und den Adam dankbar angenommen hatte. Welch ein Gegensatz zu den Köstlichkeiten von damals! Während Adam abwechselnd aß und von dem Erlebten berichtete, erschien eine junge Frau und nahm wortlos neben Jakob Platz. Obwohl auch ihr die Sorgen im Gesicht standen, war die Kraft zu spüren, die in ihr steckte. „Es war im Jahr nach der Hochzeit meiner Tochter“, hob Albert Ney an. „Ein Blitz ist damals in die Scheune gefahren. In kürzester Zeit war sie niedergebrannt, und anschließend haben die Flammen auf die anderen Gebäude übergegriffen. Hätten die Nachbarn nicht so tatkräftig beim Löschen geholfen, uns wäre nichts mehr geblieben.“ - „In der Scheune lagerte unser ganzes Getreide“, fügte der Sohn hinzu. „Am nächsten Tag wollten wir damit zur Mühle.“ - „Aber das war noch nicht alles“, fuhr Albert Ney fort. „Im letzten Jahr hat uns der Herrgott auch noch mit Krankheit und Tod gestraft: Bald nach Palmarum lag ich wochenlang am Fieber darnieder, und am Martinstag ist meine Tochter bei der Geburt ihres ersten Kindes von uns gegangen.“ Adam senkte betroffen den Kopf. Aber Albert Ney war noch nicht fertig: „Und in wenigen Tagen wird uns Jakob verlassen, zusammen mit seiner Frau Clara. Was uns sehr traurig stimmt, allerdings gibt es dadurch auf unserem Hof zwei Esser weniger. Meine übrigen Kinder …“

 

 

Als wäre es abgesprochen, ging in diesem Augenblick die Tür auf und zwei junge Männer betraten den Raum. Die beiden anderen Söhne von Albert Ney. Adam hatte ihre Namen vergessen, konnte sich aber auch an sie noch erinnern. Sie wechselten ein paar Begrüßungsworte mit ihm und nahmen dann ebenfalls am Tisch Platz. „Meine übrigen Kinder bleiben hier“, vollendete Albert Ney seinen Satz. „Karl will ebenfalls gehen, aber das ist gegenwärtig noch nicht möglich. Nach dem Brand mussten wir uns viel Geld leihen, das müssen wir erst zurückzahlen.“ Adam nickte verstehend, obwohl er ebenso wie alle anderen im Raum wusste, wie schwer das sein würde. Wer zwanzig von hundert für

geliehenes Geld hinlegen musste, der brauchte schon ein mittleres Wunder, um sich aus diesem Sumpf wieder herauszuziehen. Alles andere kam einer Lebenslüge gleich.

 

Hatte Adam sich ursprünglich Hilfe von dem Freund seines Vaters erhofft, so war ihm inzwischen nur allzu klar, dass er Hilfe hier schwerlich erwarten konnte. Schon spielte er mit dem Gedanken, sich zu verabschieden und nach einem anderen Ausweg aus seiner Lage zu suchen, als er auf einmal stockte. Jakob und seine Ehefrau würden den Hof verlassen, hatte Albert Ney gesagt. „Wohin werdet ihr gehen?“, wandte er sich an Jakob. „Nach Amerika, wie so viele andere? Nach … wie heißt das doch gleich … Penn …“ - „Pennsylvanien“, vollendete Jakob das Wort. „Nein, nicht nach Pennsylvanien. Wir haben tatsächlich eine Zeitlang darüber nachgedacht. Aus unserer Gegend sind schon einige dorthin aufgebrochen. Ob mit Erfolg …“ Er zuckte die Achseln. „Wir haben nichts mehr von ihnen gehört. Mag sein, dass sie sich dort tatsächlich ein neues Leben aufgebaut haben. Ein neues und hoffentlich auch ein besseres. Nein, wir haben ein anderes Ziel: Wir gehen nach Preußen.“ 

 

„Nach Preußen?“ Adam wusste von Preußen nicht viel, nur an den Namen des Königs glaubte er sich zu erinnern: Friedrich, ein Name, den er unlängst im Dorfkrug aufgeschnappt hatte. Menschen aus ihrem Teil der Pfalz waren schon überall hingegangen, in dieses Pennsylvanien, zu den Habsburgern, zum russischen Zaren und sonstwohin. Nur von einem Preußen als Ziel hatte er noch nichts gehört. Wo lag das überhaupt? Wie viele Tagesmärsche von hier entfernt?

 

„Waren die Werber denn nicht auch bei euch?“, erkundigte sich Jakob. Adam schüttelte den Kopf, und Jakob begann zu erzählen: „Vor ein  

paar Wochen kam ein Weinhändler aus Konstanz durch unser Dorf, von dem haben wir das erste Mal von der Sache erfahren. Kurz darauf waren zwei Männer in den Nachbardörfern unterwegs, die reisten im



Auftrag des preußischen Königs und wollten Menschen für sein Land anwerben. Auch bei uns waren sie, und alle Leute sind zu ihnen gegangen, um zu hören, was es mit dieser Anwerbung auf sich hat.“

 

„Bei uns war niemand“, wiederholte Adam.

 

Jakob überging die Bemerkung. „Der König will neue Dörfer gründen und Land erschließen, haben die Werber gesagt, und dafür sucht er Leute. Fleißig und arbeitsam sollen sie sein, ihre Religion ist ihm dagegen gleichgültig. Ob Reformierte, Lutheraner oder katholisch, das macht für ihn keinen Unterschied. Jeder soll auf seine eigene Art selig werden, sagt der König. Und er ist großzügig: Kommt ein Bauer zu ihm, so gibt er ihm Land und ein Haus, und er soll ein freier Mann auf eigener Scholle sein.“ - „Und außerdem zahlt der Bauer wenig Steuern“, warf die junge Frau ein - Clara hatte Albert Ney sie genannt -, die bis dahin schweigend, aber als aufmerksame Zuhörerin neben Jakob gesessen hatte. „Und kein Mann darf gegen seinen Willen zu den Soldaten gepresst werden.“

 

Adam war beeindruckt. Land und ein Haus, günstige Steuern und nicht mit Zwang zu den Soldaten, wie das bei ihnen in der Pfalz oft der Fall war. Und das alles unabhängig von der Religion, der jemand angehörte. Ein König, dem es gleichgültig war, wie seine Untertanen beteten!

 

Jakob machte ein säuerliches Gesicht. „Unsere Grundherren sind natürlich nicht begeistert von solchen Werbern und davon, dass Bauern und Handwerker ihnen folgen. Häufig legen sie Auswanderungswilligen Steine in den Weg. Oft müssen die Leute zahlen für die Erlaubnis, fortgehen zu dürfen, so wie wir. So sind sie halt, die hohen Herren - denen geht es immer nur um den eigenen

Vorteil. Was schert es sie, wenn ihren Untertanen das Wasser bis zum Hals steht. Wenn ihnen nichts anderes bleibt, als das Land ihrer Väter zu verlassen, um woanders das Leben zu finden, das ihnen hier verwehrt wird.“

 

„Früher sind Menschen aus anderen Ländern zu uns gekommen“, warf Albert Ney ein. „Heute nehmen die Leute Reißaus von hier. Wen wundert’s, nachdem man aus der Pfalz ein Armenhaus gemacht hat.“

 

Die anderen stimmten ihm zu. Gerade einmal zwei Generationen lag der Krieg mit dem Nachbarn Frankreich zurück, in dem ganze Landstriche verheert worden waren und unzählige Menschen ihr Leben verloren hatten. Und als wäre das nicht schon schrecklich genug, war auch noch der Streit zwischen den Religionen hinzugekommen. Waren katholische Herrscher an der Macht, brach für Reformierte und Lutheraner eine schwere Zeit an. Jeder, der nicht dem Papst in Rom huldigte, wurde drangsaliert, worauf viele Menschen um ihres Glaubens willen ihre Heimat verließen. Ein stetig wachsender Strom, der sich über zahlreiche Länder ergoss. Und der nun also auch das Land des Preußenkönigs Friedrich erreicht hatte.

 

Ein paar Atemzüge lang schwiegen alle, und jeder hing seinen Gedanken nach. Dann ergriffen Adam und Jakob gleichzeitig das Wort. „Vielleicht sollte ich auch …“, begann Adam, und Jakob hob an „Du könntest uns …“ Beide stockten. Jeder von ihnen wusste, was der andere hatte sagen wollen, und angesichts der Lage, in der Adam sich befand, war dies auch ein naheliegender Gedanke. Albert Ney übernahm es, ihn in Worte zu fassen: „Ihr meint, ihr solltet euch gemeinsam auf den Weg machen?“ Die beiden nickten. „Eine gute Idee“, zeigte sich Albert überzeugt. Er richtete seinen Blick auf Adam. 



"Nach dem, was du uns erzählt hast, kannst du nicht mehr zu deiner Familie zurückkehren. Du müsstest mit dem Schlimmsten rechnen. Wie …“ Wie Ludwig, hatte er sagen wollen, aber er sprach es nicht aus. „Das Leid ist unsereinem ein anhänglicher Gesell. Wie hat mein Vater immer gesagt: Unsere glücklichen Stunden passen auf ein Hasenfell, für die unglücklichen bedarf es das Fell eines Bären. Recht hatte er. Und deshalb solltest du, Adam, das Beste aus deiner Lage machen und dich meinem Sohn anschließen. Und du, Jakob, solltest es zu schätzen wissen, dass der Sohn meines Freundes dich begleitet. Es wird dir sehr viel abverlangt werden in deinem neuen Leben, und dabei kannst du Hilfe gut gebrauchen. Adam scheint mir einer zu sein, der anpacken kann, außerdem glaube ich, dass er das Herz auf dem rechten Fleck hat. Und was den Preußenkönig anbelangt - der wird einen zusätzlichen Mann in seinem Land wohl zu schätzen wissen."

 

Allgemeine Zustimmung folgte den Worten. Es gab Entscheidungen, die mussten lange und gut durchdacht werden, und es gab andere, bei denen lag das Ergebnis von Anfang an klar auf der Hand. So wie in diesem Fall. Und so diente das weitere Gespräch denn auch nur noch der Klärung von Einzelheiten der Reise. Jakob, so wurde beschlossen, sollte zusammen mit Clara die noch verbliebenen Vorbereitungen zügig vorantreiben, während Adam sich so lange in einer Waldhütte verstecken sollte, auf dass er seinen Häschern - vorausgesetzt, sie suchten überhaupt noch nach ihm - nicht doch noch durch einen bösen Zufall in die Hände fiel. Seiner Familie würde er eine Nachricht zukommen lassen, wenn er erst einmal weit weg und damit in Sicherheit war. Seiner Familie …