22. Kapitel

 

(Sommer 1750, Kurtschlag) 

 

 

Es gibt Träume, die durchlebt ein Mensch immer wieder. Auch Elsa hatte einen solchen Traum. In der Nacht, nachdem Clara ihr das wütende „Nicht mit mir!“ entgegengeschleudert hatte, war er wieder da. Lange lag sie nach dieser Szene noch wach, auch als im Dorf längst Ruhe eingekehrt war, doch schließlich war auch sie in den Schlaf gefallen. Irgendwann waren ihre Gedanken auf die Reise gegangen, anfänglich lauter unzusammenhängendes Zeug, bis ihr Traum wieder begonnen hatte. Das gleiche Muster wie immer und jedesmal mit dem gleichen Anfang. Mit dem Raum im Schloss, in dem sie stand, nachdem ein Diener sie dort hingeführt und ihr befohlen hatte, sie solle warten. Den Raum selbst nahm sie nur verschwommen wahr, anders als das mit edlem Stoff bezogene Kanapee, den Sessel und das zierliche kleine Tischchen, auf dem eine Karaffe stand und ein Pokal mit Wein. Und dann war da noch die Tür, die sich nach einer Weile öffnete, und durch die er hereintrat. Wortlos ließ er sich in dem Sessel nieder, trank von dem Wein, und dabei betrachtete er sie. Dass sie zitterte und jeden Moment umzufallen drohte, störte ihn nicht, vermutlich nahm er es nicht einmal wahr, es war auch nicht wichtig für ihn. „Zieh dich aus!“, war das Erste, was sie von ihm hörte. Sie rührte sich nicht, hatte auch nicht die Absicht, es zu tun, begann aber doch damit, als er sie auf ihr Geheimnis ansprach. Allem Anschein nach hatte Monsieur Thouret ihr von dem Diebstahl ihrer Mutter erzählt, womit er das Druckmittel besaß, sie zum Objekt seiner Lust zu machen. Sie nahm ihre Haube ab, behielt sie in der Hand und stand da wie zuvor. Seine Stimme wurde kalt. „Los, nun mach schon!“, drängte er sie, erst ein Mal, danach noch ein zweites und ein drittes Mal, bis sie schließlich nackt vor ihm stand. Aus der Karaffe schenkte er sich Wein nach und trank erneut. Dann erhob er sich, und mit den Worten „Sei lieb zu mir!“ machte er zwei Schritte auf sie zu. Gierig streckte er die Hände nach ihr aus, sie waren kurz, beinahe rosafarben und fleischig, vor allem das Fleischige war es, was ihr an diesen Händen aufgefallen war. Auch sein Mund war beinahe rosafarben, und groß war er, was daran lag, dass der

Kammerjunker ihr jetzt ganz nahe war, nur noch eine Armlänge von ihrem Gesicht entfernt. „Du sollst lieb zu mir sein!“, forderte er sie erneut auf, und dann sagte er noch, dass er Spaß haben wolle, und dass sie sich nicht so anstellen solle. Und dazu funkelten seine Augen, und seine unförmigen Hände legten sich auf ihre Brüste, einfach so, ganz selbstverständlich, als habe sie ihn darum gebeten.

 

Wie er seine Hose öffnete, sah sie nicht in ihrem Traum, sie sah nur seinen Penis, der plötzlich da war, klein und schrumpelig, was den Kammerjunker  ärgerlich machte, denn er begann zu schimpfen. Forderte sie mit derben Worten auf, diesen Zustand zu ändern, was sie nicht wollte, weshalb er noch ärgerlicher wurde und abermals ihr Geheimnis bemühte. Mit Tränen in den Augen tat sie, was er von ihr verlangte, während er gleichzeitig seine Hände über ihren Körper wandern ließ. Grob packte er sie an, knetete mit seinen Fingern ihr Fleisch, was ihn offensichtlich erregte, denn während sie die gewaltsamen Berührungen kaum noch aushielt, warf er sie auf das Kanapee und drang in sie ein. Ein stechender Schmerz durchfuhr ihren Leib, sie wollte schreien und sich losreißen, doch er hielt ihr den Mund zu und zog sie mit der anderen Hand noch enger an sich. Schnell und heftig begann er sich jetzt zu bewegen, er stöhnte, Speichel tropfte auf sie herab, und als sie schon glaubte, es nicht länger aushalten zu können, da brach er über ihr zusammen, eine Last, die sie beinahe erdrückte. Alles Weitere ging schnell. Schwer atmend zog er sich zurück aus ihr, schloss seine Hose und ließ sich erneut in den Sessel fallen. Gierig griff er nach dem Pokal und nahm einen langen Zug. Für sie hatte er keinen Blick mehr, auch kein Wort, und während sie sich in ihrer Angst und ihrem Ekel auf dem Kanapee ganz klein zu machen versuchte und nicht wusste, was sie tun sollte, sprang er auf einmal von seinem Sessel auf und war gleich darauf aus dem Raum.

 

 



Mehr als diese eine Begegnung sah sie nicht in dem Traum, obwohl es danach noch zwei weitere gegeben hatte. Auch ihre Verzweiflung sah sie nicht, die Tränen, die Fragen ihrer Mutter, ob sie krank sei, warum sie nichts esse und ob sie nach Dorothea schicken solle, einer Weberin, die sich in der Welt des Heilens gut auskannte, und die ihr vielleicht helfen könnte. Das alles fehlte in ihrem Traum, mit Ausnahme der Weberin. Die hatte sie aufgesucht und ihr von dem Kammerjunker erzählt, aus eigenem Antrieb, und um sich helfen zu lassen. Allerdings nicht so, wie ihre Mutter das wollte. Dass die Frau auch über andere Dinge Bescheid wusste, als bloß übers Heilen, munkelten manche, und genau das war es, worum es Elsa ging. In ihrem Traum stand sie mit der Weberin auf einer Wiese, was falsch war, denn in Wirklichkeit hatten sie in deren Kammer gestanden, einem winzigen Verschlag, in dem sie lebte. Im Traum aber war es diese Wiese, die Frau ergriff ihre Hand und führte sie zu einer Pflanze, und dazu sagte sie „Dies ist die Lösung!“. Und weil es so wichtig war, wiederholte sie die Worte: „Dies ist die Lösung!“

 

 

An dieser Stelle brach der Traum jedes Mal ab. Doch war das, was er ausließ, Elsa noch immer so gut in Erinnerung, als wäre es erst gestern geschehen. Der Schierling war die Pflanze, die die Weberin ihr gezeigt hatte, weil Elsas Schicksal sie so sehr berührt hatte. Ein hoch wirksames Gift, und wie man es anwenden musste, hatte die Weberin ihr ebenfalls verraten. Anschließend hatte Elsa um Bedenkzeit gebeten, ist das Töten eines Menschen doch keine Kleinigkeit, auch wenn er sich noch so grausam verhalten hat. Um ihre Gedanken zu ordnen und in Ruhe über alles nachzudenken, war Elsa nach dem Besuch bei der Weberin an die Spree gegangen, und dann waren auf einmal Jakob und Adam erschienen und hatten sie in ein Gespräch verwickelt. Danach war alles ganz anders gewesen, zusammen mit ihrer Familie hatte sie Berlin verlassen, und nun war sie hier. Dem Kammerjunker war das Schicksal, das sie ihm zugedacht hatte, erspart geblieben, obwohl die Wunden, die er ihr zugefügt hatte, noch längst nicht verheilt waren. 

Nicht zuletzt der wiederkehrende Traum machte das deutlich, an dessen Ende der Schierling stand. 

 

Der Schierling … Auch in der Nacht nach dem Zusammenstoß mit Clara stand er da. Doch diesmal war es nicht ihr üblicher Traum, den sie geträumt hatte, denn diesmal war es nicht der Kammerjunker, um den es ging.

 

Am Morgen stand Elsa am Rand eines Feldes außerhalb ihres Dorfes. Dass der Schierling in dieser Gegend wuchs, hatte sie gewusst. Wiederholt hatten sie ihn gesehen, aber nie zuvor wäre ihr der Gedanke gekommen, ihn zu pflücken, um von seinen Kräften Gebrauch zu machen. Wie unschuldig sah diese Pflanze aus, die rotbraun gefleckten Stengel, die gefiederten Blätter, die doldenförmige Blüte so weiß wie die Unschuld. Aber unschuldig war diese Pflanze mitnichten, ganz im Gegenteil. Welchen Teil auch immer man wählte, ob Stengel oder Wurzel, ob Blätter oder Samen, der Schierling war durch und durch giftig. Gerade so, wie es Menschen gab, die durch und durch böse waren. Elsa beugte sich über die Pflanze und bewegte die Blüten zwischen ihren Fingern. Auch jetzt noch fiel ihr die Entscheidung nicht leicht, und vorhin wäre sie auf halbem Weg beinahe umgekehrt, schließlich gab es auch vieles, wofür sie Clara dankbar sein musste. Sie war gut zu ihr gewesen, hatte sich um sie gekümmert und sie teilweise sogar wie eine Schwester behandelt. Doch sollte sie, Elsa, deshalb von ihrem Plan ablassen? Nein, trotz allem war sie im Recht! „Du sollst nicht töten!“, lautete das Gebot. Aber tötete Clara sie nicht auch, indem sie sie ihrer Liebe beraubte?

 

Entschlossen machte Elsa sich daran, die Pflanze auszuwählen, die ihr am geeignetsten erschien, als sie hinter sich auf einmal ein Geräusch vernahm. Erschrocken drehte sie sich um. Ein paar Schritte entfernt von ihr stand Ljuba. Sie wirkte gehetzt. War sie zufällig hier oder hatte sie nach ihr gesucht? "Das Kind ist da!", stieß Ljuba außer Atem hervor. "Ein Junge!" Elsa war so sehr in ihr Vorhaben vertieft gewesen, dass sie 



einen Augenblick brauchte um zu begreifen. Offensichtlich hatten die Wehen bei Clara früher eingesetzt als erwartet, und so, wie sich Ljuba anhörte, war die Geburt gut verlaufen, was keineswegs selbstverständlich war. Obwohl sie am liebsten geflucht hätte, bemühte sie sich um Fassung. „Ich komme“, antwortete sie. Und nachdem sie dem Schierling noch einen verstohlenen Blick zugeworfen hatte, machte sie sich mit Ljuba auf den Rückweg. Es hätte so einfach sein können …

 

War schon eine Geburt ein Ereignis, das ein kleines Dorf wie Curthschlag bewegte, so kam ausgerechnet in diesem Augenblick noch etwas hinzu, das den Pegel der Erregung weiter ansteigen ließ. Zuerst hörten sie es. „Was ist das?“, entfuhr es Elsa. Auch Ljuba hatte es vernommen, wusste aber keine Antwort und zuckte mit den Schultern. Gleich darauf kam es deutlicher. Irgendwo im Dorf riefen Menschen, darunter lauter als alle anderen eine Frau. Ihrer Stimme nach zu urteilen, musste es sich um etwas Dramatisches handeln. Elsa und Ljuba beschleunigten ihre Schritte, und als sie die Brücke über das Döllnfließ erreicht hatten, konnten sie es sehen: Auf dem Dachfirst seines Hauses saß Arnold Steuer, breitbeinig und ohne sich zu bewegen, saß einfach nur da, während sich auf der Dorfstraße zahlreiche Bewohner versammelt hatten und zu ihm hinaufstarrten. Unmittelbar vor dem Haus stand Anna, seine Ehefrau, und schrie in einer Mischung aus Verzweiflung und Hysterie, ohne dass ihr Mann auf dem Dach darauf reagierte.

 

„Was ist los?“, wandte sich Elsa an die Nächststehende, eine Magd vom Schulzenhof. „Arnold will sich runterstürzen“, stieß die Magd aufgeregt hervor, ohne den Blick von dem Dach zu wenden. „Runterstürzen?“, wiederholte Elsa. „Tu’s nicht!“, schrie seine Frau. „Komm runter, Arnold! Mach den Strick ab und komm runter!“ Den 

Strick - erst jetzt entdeckte Elsa ihn. Arnold Steuer hatte das eine Ende um seinen Hals gebunden, das andere um einen Balken, der auf der Giebelseite aus dem Dachstuhl hervorragte. Der Strick war kurz, würde er springen, wäre es der sichere Tod. „Komm runter, Arnold!“, mischte sich in diesem Augenblick eine andere Stimme in den allgemeinen Aufruhr. Sie gehörte dem Schulzen, der sich einen Weg durch die Menge gebahnt hatte und nun neben der Frau stand. „Mach keinen Fehler, Arnold! Wir können über alles reden. Aber komm runter!“ - „Warum ist er da oben?“, erkundigte sich Elsa bei der Magd. Die starrte noch immer zum Dach hinauf, während ihr vor Aufregung Tränen über die Wangen liefen. „Er spricht nicht, und auch Anna gibt er keine Antwort. Anna war bei Clara und hat ihr bei der Geburt geholfen.“ Sie schluchzte. „Das Kind war schon da, alles war gut, aber als sie aus dem Haus trat …Es ist so furchtbar!“

 

„Wir helfen dir, Arnold!“, rief der Schulze nach oben. „Aber komm runter! Es gibt für alles eine Lösung!“ - „Ja, wir helfen dir“, riefen jetzt auch einige andere. „Du bist nicht allein!“ - „Ihr könnt mir nicht helfen“, antwortete Arnold Steuer so leise, dass nur die Nächststehenden ihn hören konnten. Es waren die ersten Worte, seit er auf das Dach gestiegen war. Der Schulze gab den Versammelten ein Zeichen, worauf es ganz still wurde. Nur eine Amsel waren noch zu hören. „Ich ertrag das alles nicht mehr“, kam die Stimme vom Dach. Eine Stimme, der jedes Leben fehlte, die nur noch mechanisch Worte über die Lippen brachte. Könnten Tote sprechen, es würde sich genau so anhören. „Zuerst meine erste Frau … dann meine Töchter … und anstatt eine neue Heimat zu finden, hab ich ein halbfertiges Haus … meine Äcker sind noch immer voller Stubben, und die Kuh gibt kaum Milch … Warum sollte ich runterkommen?“ Jetzt liefen auch ihm Tränen über die Wangen. „Auf meinem Leben liegt ein Fluch. Ich weiß, dass es eine Sünde ist, was ich hier tue. Aber ich kann nicht mehr!“ - 



"Wir helfen dir, Arnold!", wiederholte der Schulze. Schon einmal hatte er einen Knecht für ein paar Tage für ihn  abgestellt, aber offensichtlich war das zu wenig gewesen. „Wir helfen dir!“, griffen die Umstehenden den Satz auf und ebenso seine Frau, in der Hoffnung aufzukeimen begann. „Komm runter, Arnold!“, flehte sie. „Alle werden dir helfen … werden uns helfen! Alle!“ Mit der Hand beschrieb sie einen Bogen über die Versammelten. So viele Monate waren sie nun schon zusammen. Sie hatten sich kennengelernt, und mit der Zeit war eine Gemeinschaft entstanden. Sie waren Bewohner desselben Dorfes, und sie alle hatten das gleiche Ziel. „Komm runter, Albert, komm runter!“

 

Irgendwann kam er dann auch, angetrieben von der Erwartung, dass er in seiner schwierigen Situation nicht allein bleiben würde. Dass er und seine Anna mit Hilfe rechnen durften. „Danke“, murmelte er leise, als er sich an den Abstieg machte. Wie wohl taten ihm das Schulterklopfen, das In-den-Arm-nehmen, das Spüren der Tränen, die seinetwegen vergossen worden waren! Als sei er in Trance, so stand er neben seiner Frau. War es nicht genau das, was eine Dorfgemeinschaft ausmachte?