23. Kapitel

 

(Sommer 1750, Kurtschlag) 

 

 

Da Curthschlag nach wie vor keine Kirche besaß - wie hätten die Kolonisten eine solche auch in so kurzer Zeit aus dem Boden stampfen können -, fand die Taufe des Kindes im Haus des Schulzen statt, dem größten im Dorf. Vorgenommen wurde sie von einem Pfarrer aus der Nachbarschaft, der dem Kind den kirchlichen Segen erteilte: einem Jungen, der nach Claras Großvater den Namen Thomas tragen sollte. Die Rolle der Paten übernahmen Adam und Ljuba, Letztere selbst kurz vor der Niederkunft, und das womöglich mit Zwillingen, wie manche im Dorf angesichts ihrer Leibesfülle munkelten. Einiges Aufsehen erregte ein Taufgeschenk: eine Perle an einer Kette, bläulich schimmernd und von tropfenförmiger Gestalt, die Clara dem Kleinen um den Hals hängte. Einst hatte sie die Perle von ihrer Mutter erhalten, die sie wiederum von deren Mutter bekommen hatte, ohne dass jemand hätte sagen können, wie die Perle überhaupt in die Familie gelangt war. Alle drei hatten sie stets bei sich gehabt, und die Perle hatte sie beschützt, und genau so sollte es auch bei dem kleinen Thomas sein. Jakob stand neben Clara, ein wenig unbeteiligt nach Elsas Eindruck, aber vielleicht war es ja nur ihr Wunsch, der sie ihn so sehen ließ. Im Anschluss an die Taufe wurde nach altem Brauch gefeiert, mit gutem Essen, reichlich Bier und wie üblich mit Tanz, wobei alles im Freien stattfinden konnte, schließlich war Sommer und die Abende waren lang und warm. Für die Musik zeichneten Peter Bremm, Georg Spieß und Jacob Neubauer verantwortlich. Ihre Instrumente beherrschten sie ebenso gut wie ihre Werkzeuge, und bei vergleichbaren Gelegenheiten waren sie auch schon in den umliegenden Dörfern aufgetreten und einmal sogar in Templin. Auch dieses Fest stellte wieder eine angenehme Abwechslung dar, die die Bewohner Curthschlags für ein paar Stunden ihren mühevollen Alltag vergessen ließ. Selbst Arnold Steuer war dabei. Ihm wie versprochen zu helfen, hatte sich für die Dorfbewohner zwar als schwierig herausgestellt, da jeder mit seinen eigenen Aufgaben noch immer gut ausgelastet war. Aber alle taten, was 

sie konnten, und so ging es auch bei Arnold Steuer inzwischen besser voran. Auch er - so die allgemeine Meinung - würde es schaffen.

 

Wenige Wochen nach dieser Feier versammelten sich die Bewohner Curthschlags erneut, aber diesmal wurde nicht musiziert, getanzt und gesungen, und es wurden auch keine bierseligen Gespräche geführt. Diesmal war alles sehr still, und jeder war in sich gekehrt, denn sie hatten Clara zu Grabe getragen. Gänzlich unerwartet war sie gestorben, herausgerissen aus dem Leben in der Blüte ihrer Jahre, gerade erst zum zweiten Mal glückliche Mutter eines Kindes und noch mit so viel Schwung für die Zukunft. Nur kurz hatte sie gelitten, dann hatte sie die Augen für immer geschlossen. Was unbeschadet aller Trauer und allem Grübeln darüber, was einen solch jähen Tod bewirkt haben mochte, sofort die ganz praktische Frage aufwarf, wie es mit dem Witwer und den beiden kleinen Kindern nun weitergehen sollte. Eine Frage, deren Beantwortung ebenso dringlich war wie einfach zu beantworten: Da Jakob die viele Arbeit im Haus und auf dem Feld unmöglich alleine schaffen konnte, brauchte er umgehend eine Hilfe, außerdem für seine Kinder eine neue Mutter und für sich selbst eine neue Frau. Am besten eine, die sich mit dem Haushalt bereits auskannte und an die die Kinder sich schon gewöhnt hatten. Also Elsa. Und da sowohl sie als auch Jakob sich mit dieser Lösung einverstanden erklärten, stand die Entscheidung schnell fest: Elsa würde weiter im Haus bleiben, von nun an allerdings nicht länger als Magd, sondern als die angetraute Ehefrau von Jakob. Auf einen Aufschub der Heirat, so wie das nach einem Todesfall normalerweise üblich war, musste man in diesem Fall verzichten, da es eine Sünde gewesen wäre, wenn die beiden ohne kirchlichen Segen zusammengelebt hätten. Und deshalb wollte man umgehend alle notwendigen Schritte einleiten, um den Anforderungen der Kirche Genüge zu tun. Eine Eile, die der Trauer um die von allen geliebte Clara aber natürlich keinen Abbruch tat. Doch wenn das Leben 



mit unüblichen Problemen aufwartet, dann muss man halt mit unüblichen Lösungen darauf antworten. So war er nun einmal, der Tod - holte sich einen Menschen, wie und wann es ihm gefiel, und überließ den Zurückgebliebenen die Antwort.

 

Mehrere Wochen gingen ins Land, als Jakob seine neue Ehefrau zum ersten Mal in sein Bett holte. Trotz des Grabens, der sich zwischen ihm und Clara in der letzten Zeit aufgetan hatte, war ihm deren Tod doch weit näher gegangen, als er erwartet hatte. Elsa wiederum war klug genug, sich zu gedulden. Doch dann war der Tag da, an dem er „Komm!“ zu ihr sagte, und mit klopfendem Herzen und zugleich mit dem Feuer, das in ihr loderte, folgte sie seinem Ruf. Dass er nicht der erste für sie war, schien ihm nichts auszumachen, oder wenn es ihm etwas ausmachte, so ließ er es sie nicht merken. Bereits mit der Einwilligung in die Hochzeit hatte er ja zum Ausdruck gebracht, dass er über früher Geschehenes hinwegsehen konnte. Auch für Elsa war die Vergangenheit vorbei. Zwar trug sie nach wie vor Wunden aus jener Zeit, und die würden sich wohl auch niemals ganz schließen. Trotzdem wusste sie, dass sie es mit Jakob an ihrer Seite schaffen würde, mit diesen Wunden zu leben. Wenn ihre erste Begegnung allem guten Willen zum Trotz dennnoch scheiterte, so deshalb, weil Clara im Raum stand - für Jakob als die verlorene Liebe vieler Jahre und als die Mutter seiner Kinder, für Elsa, weil sie trotz der Kälte, die sie bei der Tötung Claras an den Tag gelegt hatte, ihr Gewissen doch nicht ganz ausschalten konnte. Und so lag sie anschließend wortlos an seiner Seite, den Kopf voller Gedanken und Bilder, während die Nacht dahinfloss und Dunkelheit sie einhüllte. Aber sie hatte ja Zeit. Alles würde sich zum Besten wenden, schließlich gehörte ihnen von nun an die Zukunft. Kinder wollte sie ihm schenken, eine große Familie, die noch viele Generationen später im Dorf ihren festen Platz haben sollte. Ohne die Söhne von Clara allerdings. Wie zwei Kuckuckskinder saßen die beiden im Nest, doch das würde sich ändern. Allein aus ihrem Schoß sollte kommen, wer dereinst den Hof übernahm. Allein aus ihrem Blut und dem Blut von Jakob. Und mochte die Trauer über sein verlorenes Leben zur Zeit auch noch auf ihm lasten, so würde er schon bald spüren, dass das, was sie getan hatte, auch für ihn das Beste war.