25. Kapitel

 

(Herbst 1751 bis 1754, Kurtschlag) 

 

 

Manche Erinnerungen begleiten den Menschen sein Leben lang. Nicht, dass sie ihm ständig gegenwärtig wären. Sie lauern im Hintergrund, aber beherrschen nicht seine alltäglichen Gedanken. Doch oft braucht es nur einen kleinen Anlass, und sie sind wieder da, als habe sich das Ereignis gerade erst zugetragen. Auch Elsa besaß eine solche Erinnerung. Sie ging zurück auf ein Erlebnis bei der Familie eines Onkels, das etliche Jahre zurücklag. Die Familie lebte in Berlin unweit des Spandauer Tors in einem Haus mit einem kleinen Garten dahinter, in dem nicht nur einige Hühner herumliefen, sondern in dem sich außerdem ein Verschlag mit zwei Schweinen befand. Von Zeit zu Zeit hatte Elsa ihren Onkel besucht, und dabei hatte sie sich auch um die Schweine gekümmert. Sie hatte den Verschlag gesäubert und den Mist auf einen Haufen gekarrt, hatte neues Stroh eingestreut und die Tiere mit Futter und Wasser versorgt. Alles Aufgaben, die sie stets zuverlässig erledigt hatte, so wie auch an diesem Tag vor sieben Jahren. Ein Teil der Arbeit war bereits getan, und gerade wollte sie den Mist abfahren, als bei den Tieren auf einmal Hektik ausbrach. Verhielten sich die Schweine während des Ausmistens normalerweise völlig ruhig, so machten sie plötzlich einen Lärm, als sei der Leibhaftige hinter ihnen her. Ein Blick genügte, und Elsa entdeckte, dass ein Huhn in den Verschlag geraten war und die Schweine sich darüber hergemacht hatten. Nur wenige Augenblicke hatte es gedauert, und nichts war mehr übrig geblieben außer einigen Federn. Wären die nicht gewesen, so hätte niemand gemerkt, was sich hier gerade ereignet hatte.

 

Elsas eigenes Erleben war an dieser Stelle zu Ende, die Geschichte aber, die sich um diese Begebenheit rankte, ging weiter. Noch am selben Tag hatte sie einer Freundin von dem Vorfall erzählt. Ein solches Verhalten sei bei Schweinen völlig normal, hatte die zu ihr gesagt. Geriete etwas in ihren Verschlag, das sich verdauen ließ, so würden sie es fressen. Und anschließend hatte die Freundin mit leiser Stimme noch hinzugefügt, dass mitunter auch Frauen sich ein solches Verhalten der Schweine zunutze machten. Mägde zum Beispiel, die von ihrem Herrn 

geschwängert wurden und die sich in ihrer Not nicht anders zu helfen wüssten, als mit dem Neugeborenen gleich nach der Geburt in den Schweinestall zu gehen. Ja, gelegentlich würden die Mägde von ihren Herrn sogar dazu gedrängt, hatte die Freundin noch ergänzt. Elsa hatte sie aus großen Augen ungläubig angesehen, doch die Freundin hatte nur nachdrücklich genickt, so als handele es sich um die selbstverständlichste Sache der Welt.

 

Später hatte Elsa noch mehrmals solche Geschichten gehört. Und im letzten Jahr hatte sie es dann selbst getan.

 

Ein wonniges Kind war der kleine Thomas gewesen, mit flaumigem Haar und Knopfaugen, die neugierig in die Welt schauten. Und dennoch war er ihr unerträglich gewesen, war er doch die fleischgewordene Erinnerung an das, was Jakob und Clara miteinander verbunden hatte. Thomas war die Vergangenheit, ihre eigene Liebe zu Jakob aber war die Zukunft. Und welches Recht sollte dieses Kind haben, ihre Zukunft zu stören! Weshalb sie in diesem Fall auch weit weniger Skrupel gehabt hatte als bei Clara. Selbst das Einbehalten der Perle, die Clara dem Kind bei der Taufe an einer Kette um den Hals gehängt hatte, war ihr seinerzeit geradezu als etwas Selbstverständliches erschienen. Natürlich war die Aufregung im Dorf riesig gewesen, als das Neugeborene plötzlich verschwunden war. Alle hatten wissen wollen, was mit ihm geschehen war, und natürlich hatten sich alle zuerst an sie, Elsa, gewandt. Sie habe das Bettchen für kurze Zeit nach draußen gestellt, um das Zimmer zu reinigen, so hatte sie damals erklärt, und als sie es wieder hereinholen wollte, sei das Kind nicht mehr darin gewesen, was ihr einen fürchterlichen Schrecken eingejagt habe. Dass sie seinerzeit laut um Hilfe gerufen hatte, daran konnten sich alle noch gut erinnern. Nur wenige Augenblicke später waren die Nachbarn erschienen und gleich darauf das ganze Dorf, und alle zusammen hatten sie sich auf die Suche nach dem Kind gemacht. Vergeblich. Nirgends ein Hinweis auf den Verbleib des Kleinen, und 



deshalb hatten sie die Suche irgendwann eingestellt. Wilde Spekulationen waren damals ins Kraut geschossen, angefangen von Tieren, die das Kleine geholt haben könnten über missgünstige Nachbarn aus anderen Dörfern bis zu durchziehenden Zigeunern, aber niemand hatte sie, Elsa, mit dem Verschwinden in Verbindung gebracht, zumindest nicht in der Öffentlichkeit. Jakob hatte unter dem Verlust seines Jüngsten zunächst schwer gelitten, doch da die Zeit alle Wunden heilt, hatte auch er sich schließlich in das Unabänderliche gefügt. Mit dem Versprechen, dass er bald wieder einen Sohn haben würde, ja sogar viele Söhne, hatte sie ihn zu trösten versucht. Und auch wenn der Anfang ihrer Ehe kinderlos geblieben war, so war sie sich sicher, dass der Himmel ihr auf Dauer die Kinder nicht versagen würde. Irgendwann würden sie eine Familie aus einem Guss sein, davon war sie fest überzeugt - sie selbst, Jakob und ihre gemeinsamen Kinder. Ihre Kinder, ohne Thomas und natürlich auch ohne Albert, den ersten Sohn, der sie noch immer jeden Tag aufs Neue an Clara erinnerte. Sollte sie zulassen, dass diese Erinnerung an die einstige Liebe von Jakob und Clara ihre eigene Liebe störte? Nein, auch diesen letzten Schritt würde sie eines Tages noch gehen, es musste sich nur noch eine Gelegenheit bieten.

 

Ende des Jahre 1751 schien das Schicksal auf ihrer Seite zu sein. In diesem Jahr begann der Holzeinschlag im Wald später als gewöhnlich, eine Folge des tagelangen Regens, der ausgerechnet zur Erntezeit die Felder kräftig aufgeweicht und das Einbringen des Getreides unmöglich gemacht hatte. Zwei Wochen hatten die Bauern dadurch verloren, und da sich ein nicht unerheblicher Teil der Holzarbeiter aus den Büdnern rekrutierte, die den Bauern als Tagelöhner zur Hand gingen und die nun zur Ernte gebraucht wurden, hatte der Holzeinschlag mit Verspätung begonnen. Tag für Tag hallten die Axtschläge durch den Wald, das rhythmische Eindringen des Metalls in das Holz, bis wieder ein Baum am Boden lag. In den Städten war der Hunger nach Holz nahezu unersättlich, und mit der Schorfheide stand ein riesiges Waldgebiet zur

Verfügung. Der großen Nachfrage entsprechend waren die Preise seit Jahren gestiegen, wodurch die Waldbesitzer gute Geschäfte machten. Vor allem mit Bauholz ließ sich viel Geld verdienen, aber auch mit dem weniger wertvollen Brennholz erzielten die Verkäufer ansehnliche Gewinne.

 

Was gefällt und von den Pferden aus dem Wald geschleppt worden war, musste zu den Käufern transportiert werden, und für diese Arbeit kamen die Flößer ins Spiel. Auch über das Döllnfließ und damit auch durch Curthschlag, wo das Vorbeischwimmen der mächtigen Stämme für Jung und Alt ein sehenswertes Schauspiel war und deshalb immer wieder Zuschauer anzog. Wurde die Schleuse im benachbarten Dölln geöffnet, so trieben die Stämme fließabwärts bis zur nächsten Schleuse gleich hinter Curthschlag, von wo es in mehreren weiteren Etappen bis zur Havel ging. Was nicht geflößt werden konnte, weil die Wassermenge nicht ausreichte, wurde vorübergehend auf Ablagen deponiert. Hier standen vor allem die Kinder gern und schauten zu, wie die Flößerknechte auf Anweisung des Regimenters, eines Aufsehers, das Holz mit Haken und Stangen ans Ufer zogen oder von dort zurück ins Wasser beförderten, wenn die Reise fortgesetzt werden konnte. Die Arbeit war nicht ohne Gefahren, so wie das Flößen ganz allgemein eine gefährliche Angelegenheit war, verhielten sich die Stämme im Wasser doch oftmals nicht so, wie die Knechte es wollten. Besonders schwierig wurde es, wenn sich Stämme im Fließ querlegten, so dass sie mit Stangen in ihre Bahn zurückgedrückt werden mussten. In einem solchen Fall konnte es geschehen, dass Stämme sich verkeilten, um anschließend, nachdem die Männer sie wieder befreit hatten, mit ungeheurer Wucht davonzuschießen. Wehe, wer diesen hölzernen Geschossen in den Weg kam!

 

Es war eine ähnliche Situation, die an einem kalten Novembertag nahe der Ablage von Curthschlag um ein Haar zu einem tödlichen Unfall geführt hätte. Drei Stämme hatten sich unter drei andere geschoben und 



sie ein Stück weit aus dem Wasser gehoben, wodurch sich eine gefährliche Spannung aufgebaut hatte. Schnell waren zwei Flößerknechte zur Stelle, um das Problem zu beheben, jedoch stellte sich dieses als schwerwiegender heraus, als sie gedacht hatten. Während die beiden nach einer Lösung suchten, hatten sich etliche Dorfbewohner eingefunden, die gerade in der Nähe gewesen waren, darunter Elsa und Ljuba. Gebannt hatten alle ihre Augen auf das Geschehen gerichtet. Plötzlich tauchte der kleine Albert bei den Knechten auf, als diese gerade unter Aufbietung aller Kräfte mit ihren Stangen hantierten. Wie ein angreifendes Tier richteten sich die Stämme aus dem Wasser auf, jederzeit bereit, einen Satz zu machen, wenn die Flößerknechte sie zur Seite drückten. Einen Satz in Richtung des Kindes. „Albert!“, schrie Ljuba entsetzt und rannte noch im selben Moment los. Weder auf die Flößerknechte achtend noch auf die Baumstämme, stürzte sie Albert entgegen, packte ihn am Arm und riss ihn mit Schwung von den Stämmen fort. Gerade noch rechtzeitig, denn im nächsten Augenblick löste sich die Spannung, und das Holz schoss nach vorn. Schützend warf sich Ljuba über das Kind, als einer der Stämme nur wenige Handbreit von ihnen enfernt mit einem dumpfen Geräusch auf die Erde krachte.

 

Das Kind war gerettet - von Ljuba, während Elsa nur dagestanden und tatenlos zugesehen hatte, wie es um Haaresbreite zur Katastrophe gekommen wäre. Und als Ljuba ihr den völlig verwirrten Albert brachte, da hatte sie den Eindruck, als zeichnete sich in Elsas Augen nicht Dankbarkeit für die Rettung des Kindes ab und dafür, dass sie, Ljuba, ihr eigenes Leben aufs Spiel gesetzt hatte, sondern als läge in ihnen sogar ein Vorwurf. Mit einem Schlag hatte der nie ausgesprochene, aber in all den Monaten seit Claras Tod und dem Verschwindenen des Neugeborenen bei ihr bestehende Verdacht, dass Elsa mit diesen Ereignissen etwas zu tun haben könnte, weitere

Nahrung erhalten. Wortlos wandte sie sich ab und kehrte zu den Häusern zurück.

 

Das Flößen in diesem Jahr dauerte beinahe bis Weihnachten und damit länger als üblich. Fast hatte es den Anschein, als wollte das Wetter wiedergutmachen, was es gegen Endes des Sommers angerichtet hatte. Die Kälte hielt sich in Grenzen, Schnee fiel gerade so viel, wie es den Feldern gut tat, und das Döllnfließ fror lediglich an den Rändern zu. In seiner Predigt am Heiligen Abend sprach der Pfarrer von dem vergangenen Jahr als einem guten, und die allermeisten Bewohner des Dorfes stimmten mit ihm überein. „Herr unser Gott“, betete die ganze eng zusammengerückte Gemeinde im Haus des Schulzen, „lass auch das neue Jahr uns zum Segen gereichen. Möge unser kleines Dorf wachsen und gedeihen.“ Eine Bitte, die bei dem Adressaten eine wohlwollende Aufnahme fand, denn im darauffolgenden Jahr 1752 nahm Curthschlag abermals eine gute Entwicklung, so dass seine Bewohner auch zu diesem Weihnachtsfest auf eine erfolgreiche Zeit zurückblicken konnten. Neue Kolonisten waren hinzugekommen, die Häuser in der Dorfstraße und am Döllnfließ waren zünftig herausgeputzt worden, und der Name Curthschlag besaß in der Umgebung einen guten Klang. Nicht ganz so gut verlief das darauffolgende Jahr. Neue Einwohner gab es nicht, stattdessen zogen einige fort, was den Schulzen zu der Bemerkung veranlasste „Die denken wohl, dass die Bäume anderswo schneller wachsen“. Denn obwohl die Entwicklung günstig verlaufen war, blieb auch vier Jahre nach der Gründung des Dorfes noch manches zu tun. Eine eigene Kirche gab es noch immer nicht, obwohl die Bewohner ihren Bau inständig herbeisehnten, und auch für die Unterrichtung der Kinder fehlte nach wie vor eine Schule. Als vorläufiger Lehrer hatte sich der Schuhmacher gut bewährt. Die meisten Kinder konnten ein wenig lesen, schreiben und rechnen und beherrschten - was dem Schuhmacher 



und der ganzen Gemeinde ein besonderes Anliegen war - das Vaterunser, das Glaubensbekenntnis und den Psalm „Der Herr ist mein Hirte …“  Allerdings platzte der Raum, in dem der Unterricht stattfand, immer mehr aus den Nähten, so dass Abhilfe dringend notwendig war. Anfang 1754 kam es deshalb zu einer Vereinbarung zwischen der Gemeinde und der königlichen Verwaltung in Zehdenick über den Bau einer Schule, an der sich die Verwaltung mit Geld und Holzlieferungen beteiligen wollte. Alles Übrige sollte die Gemeinde aufbringen, doch machten Unbilden des Wetters im Verlaufe des Jahres alle Pläne zunichte, so dass die Verwaltung Curthschlag einen Aufschub für den Schulbau gewähren musste. Denn zum ersten Mal seit der Dorfgründung hatten die Bewohner eine Missernte hinnehmen müssen. Erst überschwemmte zu viel Regen die Felder, so dass die Körner schon in den Ähren auskeimten, danach gab eine Krankheit dem Roggen den Rest. Und da die Missernte nicht allein Curthschlag betraf, sondern auch die umliegenden Dörfer und Städte, war der Mangel an verfügbarem Getreide beträchtlich und ein dramatischer Anstieg der Preise die Folge. Wer keine Reserven hatte, war gezwungen, sich zu verschulden. Und so zog in nicht wenigen Häusern in diesen Monaten der Hunger ein.

 

 

Auch Jakob und Elsa durchlebten eine schwere Zeit, ebenso wie alle anderen im Dorf. Wobei es nicht das erste Mal war, dass Hunger und Teuerung ihnen das Leben schwer machten. Auch in ihrer Heimat hatte es Missernten gegeben, allerdings tut der Hunger nicht dann am meisten weh, wenn man sich an ihn erinnert, sondern wenn man ihn hat. Dabei fällt es unterschiedlich aus, wie Menschen auf solche Notlagen reagieren. Während die einen dadurch zusammengeschweißt werden und ein enger Zusammenhalt es ihnen leichter macht, ihr Schicksal zu ertragen, entzweien sich die anderen. Reizbarkeit stellt sich ein, es kommt zu bösen Worten, daraus erwächst Streit, und am Ende stehen sie sich als Feinde gegenüber. Was insbesondere dann der 

Fall ist, wenn das Fundament ihrer Beziehung zuvor schon brüchig war. So verhielt es sich auch bei Jakob und Elsa, bei denen sich die fortdauernde Kinderlosigkeit zu dem großen Problem ihrer Beziehung entwickelt hatte. War es für Jakob anfänglich völlig normal, dass der erhoffte Nachwuchs eine Weile auf sich warten ließ, so empfand er diesen Zustand mit dem Fortschreiten der Zeit als ärgerlich und dann auch als eine Belastung, die um so schwerer wog, je länger sie andauerte. Unfreundliche und zunehmend gröbere Worte drängten sich in seine Beziehung zu Elsa, die schwindende Hoffnung, die er empfand, wurde zu einem schleichenden Gift, und immer öfter fiel in ihrem Alltag Claras Name. Nicht zuletzt in Verbindung mit den Namen der beiden Söhne, von denen der eine inzwischen tot war - „das schlimmste Unglück, das einem Mann wiederfahren kann“, wie Jakob es genannt hatte. Bis zu dem Satz „Clara hätte mir noch mehr Kinder geschenkt!“ war es von da nicht mehr weit, worauf er Elsa jedesmal stehen ließ, ohne ihre Tränen zu sehen, die bittere Enttäuschung und die Verzweiflung, die sich mit jedem neuen Streit immer mehr in ihr aufstaute. Was aus ihrer Sicht mit jener übergroßen Liebe begonnen hatte, mit der sie ihm verfallen gewesen war, hatte sich zunehmend als ein Irrweg herausgestellt, als ein Wunschbild, dem sie nachgejagt war, das in der Wirklichkeit aber keinen Bestand hatte. Immer tiefer wurde das Loch, in das sie fiel, und schließlich hatte sie begriffen, dass es sinnlos war, sich noch länger etwas vorzumachen. So grausam die Erkenntnis für sie auch war, aber irgendwann war der Traum, den sie geträumt hatte, zu Ende.