26. Kapitel

 

(1755, Zehdenick) 

 

 

Der Herbst des Jahres 1754 war vorbei, es kam der Winter, der zum Glück für die Dorfbewohner mild war und nicht noch zusätzliche Belastungen mit sich brachte. An der Wende zum neuen Jahr versammelten sich alle am Döllnfließ, das an diesem Tag genau so gleichmäßig und unaufhaltsam dahinfloss wie in den mehr als fünf Jahren, die sie nun schon an diesem Ort waren. „Möge der Allmächtige auch weiter seine schützende Hand über uns halten und uns gnädig sein“, hatte der Pfarrer zum Jahreswechsel den göttlichen Schutz auf die kleine Gemeinde herabgefleht. Adam und Ljuba hatten sich dabei an den Händen gehalten wie stets bei solchen Gelegenheiten, Elsa und Jakob hingegen hatten jeder für sich stumm geradeaus geschaut, ohne eine Regung in den Gesichtern, und zwischen ihnen so viel Raum, das noch ein Dritter darin Platz gefunden hätte. Statt Elsa stand Albert dicht an Jakobs Seite, sein einziges Kind, das ihm - da er jede Hoffnung auf weitere Kinder hatte fahren lassen - von Tag zu Tag immer lieber geworden war.

 

Aber mochte das Verhältnis zwischen den beiden Eheleuten sich auch mehr und mehr zum Schlechten gewendet haben, so verband beide noch immer das gemeinsame Haus, die gemeinsame Wirtschaft und nicht zuletzt der Schwur, den sie bei ihrer Heirat abgelegt hatten: „Bis dass der Tod euch scheidet.“ Was noch eine sehr lange Zeit sein konnte. Und eine Zeit, in der sie alles gemeinsam durchstehen mussten. So wie gleich im Frühjahr des neuen Jahres, als ihre Kühe erkrankten. Hatten die beiden am Abend zuvor noch gänzlich unauffällig im Stall gestanden wie an jedem Tag, so lagen sie am nächsten Morgen im Stroh, als hätte ein Sturm sie umgeworfen. Kein aufmunterndes Zureden half, auch keine Hilfe beim Aufstehen, die Tiere kamen nicht auf die Beine und verweigerten auch noch jegliches Futter. Jakob und Elsa waren ratlos, ebenso Adam und Ljuba, und auch von den Nachbarn im Dorf kam keine Hilfe. Schließlich war es Elsa, die dem Vorgehen die weitere Richtung gab. „Als ich klein war, hatte ein Nachbar eine Kuh, die hat plötzlich rote Milch gegeben. Eine alte Frau 

geriet in Verdacht, sie … “ - sie zögerte - „sie verhext zu haben. Aber bevor man die Frau befragen konnte, war sie plötzlich tot und kurz darauf auch die Kuh.“ - „Verhext …“, wiederholte Jakob das Wort, ebenfalls sehr zögernd und leise.. „Wenn das stimmt, dann bleibt uns nur eine Möglichkeit …“

 

 

Eine Stunde später befand Elsa sich auf dem Weg nach Zehdenick. Da Jakob an diesem Tag wegen des Kaufs eines Pflugs in Grunewald verabredet war, hatten sie sich geeinigt, dass Elsa die Sache mit den Kühen übernehmen sollte. Zügig schritt sie aus, handelte es sich doch um einen Weg, den sie kannte, da sie sowohl mit Jakob als auch allein wiederholt in Zehdenick gewesen war. Die Stadt betrat sie durch das Templiner Tor, wo sich ein Stadtwächter nach dem Grund für ihren Besuch erkundigte. „Ich will auf den Markt“, log sie. Der Torwächter sah sie misstrauisch an. „Und was willst du auf dem Markt?“ Elsa musterte ihn. Einer von den Wichtigtuern, die meinten, sie seien für alles zuständig. „Vielleicht kaufe ich dir ja ein neues Hemd“, entgegnete sie mit einem Blick auf seines, das den Eindruck erweckte, als könnte es ihm jeden Augenblick vom Körper fallen. Röte schoss dem Mann ins Gesicht. Er suchte nach einer schlagfertigen Antwort, fand aber keine. „Meinetwegen“, knurrte er schließlich und gab den Weg frei.

 

Zehdenick beeindruckte Elsa bei jedem Besuch immer wieder aufs Neue. Gewiss, verglichen mit dieser kleinen Stadt war ihre Heimatstadt Berlin etwas völlig anderes gewesen. Viel größer, viel mehr und viel interessantere Menschen, nicht zuletzt weil Berlin die Stadt des Königs war. Doch nach den Jahren in ihrem kleinen Dorf erschien ihr ein Ausflug nach Zehdenick fast schon wie eine Begegnung mit der großen Welt. Die vielen Häuser etwa, die alten, die schon so viel erlebt hatten, vor allem aber die neuen, zu denen jedes Jahr einige hinzukamen wie das erst kürzlich errichtete Amtshaus, das im Gegensatz zu den einfachen Häusern in Curthschlag fast schon ein Schloss war. Kein



wirklich großes und reiches natürlich wie das, in dem der König lebte, doch etwas Schlossartiges hatte dieses Amtshaus für sie durchaus. Wie gern hätte sie einmal hineingeschaut, aber sie konnte ja nicht einfach die Tür aufmachen und sagen „Guten Tag, ihr werten Herren, ich bin die Elsa aus Curthschlag und möchte mir euer Haus ansehen.“ Auch dem alten Kloster hätte sie gern einen Besuch abgestattet, viele hundert Jahre alt sollte es sein, doch auch hier konnte sie nicht einfach anklopfen und um Einlass bitten. Was bei dem Haus, dem sie sich nach einem kurzen Weg durch die Stadt schließlich zuwandte, ganz anders war. Aufgeregt war sie allerdings auch hier, oder um der Wahrheit die Ehre zu geben: sogar sehr aufgeregt.

 

Das Haus befand sich außerhalb der Stadt, gleich hinter dem Berliner Tor. Sein Bewohner war der Henker von Zehdenick. "Meister Hans", wie die Leute ihn nannten, weil sie das angsteinflößende Wort Henker nicht aussprechen wollten. Ein Wort, das schon die Unschuldigen in Unruhe versetzte, um so mehr noch die Schuldigen. Der Zehdenicker Henker stammte aus einer Familie, in der das Amt seit Generationen vom Vater auf den Sohn weitergegeben worden war - ein offenbar recht einträgliches Amt, dem Aussehen seines Hauses nach zu urteilen. Was wohl nicht zuletzt daran lag, dass der Henker zugleich der Abdecker war. Elsa schaute sich um. Außer zwei Zimmerleuten, die einen Balken an einem Haus erneuerten, war niemand auf der Straße. Sie atmete tief durch, nahm allen Mut zusammen und klopfte an die Tür. Nichts rührte sich. Nachdem ein Augenblick verstrichen war, versuchte sie es noch einmal, doch erneut kam keine Antwort. Gerade hob sie zum dritten Mal die Faust, als die Tür plötzlich aufging und eine Frau auf der Schwelle stand. Sie war klein, hatte ein auffallend hübsches Gesicht und leuchend blaue Augen. Kannte Elsa auch nicht sie selbst, so kannte sie doch ihre Geschichte. Jeder kannte die, handelte es sich doch um eine von der Art, wie sie sich nicht alle Tage ereigneten. Die Frau hatte ihren Vater mit einem Knollenblätterpilz vergiftet, nachdem sie jahrelang von ihm missbraucht worden war. Die Tat wurde entdeckt, die Frau vom Richter zum Tode verurteilt und dem Henker übergeben. 

Doch anstatt sie hinzurichten, hatte der sie freigebeten. Das Vorrecht eines Henkers: Willigte eine Verurteilte ein, ihn zu ehelichen, so blieb ihr die Hinrichtung erspart und sie lebte fortan in seinem Haus. So wie diese Frau. Abwartend stand sie da und sah Elsa an, bis die das Wort ergriff: „Ich … ähm … mein Mann schickt mich“, stammelte sie, „unsere Kühe … wir haben zwei Kühe, und die haben … ähm …die sind krank … “ - „… oder vielleicht sind sie auch nicht krank“, fiel ihr die Frau ins Wort, „sondern jemand …“ hat sie verhext, wollte sie sagen, aber dieses Wort sprach selbst eine Henkersfrau nicht leichtfertig aus. Was sie auch nicht tun musste, denn beiden war klar, worum es ging. „Und jetzt willst du von Meister Hans etwas haben, damit es euren Kühen wieder besser geht.“ Elsa nickte. „Kannst du bezahlen?“, wollte die Frau wissen. Elsa nickte abermals und hielt ihr ein Geldstück hin. Die Henkersfrau nahm es und biss darauf, um zu sehen, ob es echt war. „Zwei“, sagte sie dann. Elsa schluckte. Zwei Münzen waren viel Geld, aber auf einen Handel würde sich die Frau ganz gewiss nicht einlassen. Widerstrebend stimmte Elsa zu, worauf die Frau die Tür schloss und im Haus verschwand. Als die Tür kurz darauf wieder aufging, stolperte Elsa erschrocken einen Schritt zurück, denn damit hatte sie nicht gerechnet: Vor ihr stand der Henker. Dies also war der Mann, der Menschen mit seinem Richtschwert den Kopf abschlug, der sie an den Galgen brachte, verbrannte, ertränkte oder von Pferden in Stücke reißen ließ. Bevor der König die Folter weitgehend abgeschafft hatte, war er auch für das Anlegen von Daumenschrauben und das Abschneiden von Zungen und Nasen zuständig gewesen. „Hier“, sagte der Henker und hielt Elsa ein Stück von einem Strick hin. „An dem hat ein Kerl aus Dölln gehangen. Das ist der Rest, der noch übrig ist. Den lass ich Dir für Dein Geld.“ Elsa wurde blass, als er ihr den Strick in die Hand fallen ließ, selbst wenn er sie dabei nicht berührte. Was er auch nicht tun durfte, denn Henker gehörten zu den Menschen ohne Ehre. Würde er einem anderen nahekommen, so würde sich diese Ehrlosigkeit auf ihn übertragen und ihn aus der Gesellschaft ausschließen. Elsa legte das Geld auf die Schwelle und trat rasch wieder zurück. "Gib den Kühen den Strick in den Futtertrog", sagte der



Henker. „Aber pass auf, dass der Pfaffe dich nicht erwischt.“ Ein überflüssiger Ratschlag. Natürlich würde sie aufpassen, schließlich wusste jeder, was die Kirche von derlei Aktionen hielt. Elsa wollte noch Danke sagen, doch sie kam nicht mehr dazu. Hart warf der Henker die Tür zu. So hart, als würde er einem Menschen den Kopf abschlagen.

 

Zwei Männer hatten sie beobachtet, zufällige Besucher in dieser Gegend, passten sie mit ihren teuren Kleidern - gelbe Kniehose, gelbe Weste und ein scharlachroter, nach der neuesten Mode über der Brust geknöpfter Rock - doch so gar nicht hierher. „Dummes Volk“, stieß der eine verächtlich hervor und rümpfte die Nase. „Da schmeißen sie ihr weniges Erspartes dem Henker für einen Splitter vom Galgen oder für ein blutgetränktes Hemd in den Rachen und versprechen sich irgendwelche Wunder davon. Schutz vor Blitzen oder vor Dieben, Heilung von Krankheiten und was weiß ich.“ Er ließ ein höhnisches Lachen ertönen. „Wie sollten sie auch nicht daran glauben“, warf der andere ein, „wo ihnen unser einstiger König, Gott hab ihn selig, doch das beste Beispiel dafür war.“ - „Das allerbeste!“, bekräftigte der erste und grinste. Eine Anspielung auf König Friedrich I., der einen Henker zu seinem Hof- und Leibmedikus gemacht hatte. Martin Coblentz, ein Mann, der mehr als hundert Köpfe abgeschlagen hatte. „Zum Glück haben die Wundärzte es damals mit ihrem Protest erreicht, dass er gehen musste.“ Sein Gegenüber zuckte die Achseln. „Und was hat es genützt? Unser gegenwärtiger König wandelt in den Spuren seines Großvaters und hat den Henkern das Kurieren von Menschen wieder erlaubt. Und den Wundärzten hat er Pfeffer gegeben: Sollten sie tatsächlich so fähig sein, wie sie von sich behaupten, dann würde jedermann zu ihnen gehen anstatt zum Henker …“ - „… und sollten sie nicht so fähig sein“, ergänzte der andere, „dann sollten die Menschen sich lieber vom Henker kurieren lassen, als den Wundärzten zum Gefallen lahm und verkrüppelt zu bleiben. Jawohl, das hat seine 

Majestät gesagt. Und deshalb gehen die Menschen eben weiter zum Henker.“

 

Elsa hatte von dem Gespräch nichts mitbekommen, und sie bemerkte auch nicht die herablassenden Blicke, mit denen die beiden sie bedachten, als sie an ihr vorbeigingen. Viel zu sehr war sie mit dem beschäftigt, was sie gerade erlebt hatte. Wie eine ungeheure Last lag der Strick in ihrem Beutel. Der Strick, der einem Menschen den Tod gebracht hatte. Dabei konnte sie sich noch gut an den Fall erinnern: Der Mörder hatte den Brunnenmeister aus Templin erschlagen und anschließend im Wald verscharrt. Hätten nicht Tiere ihn freigelegt, so hätte der Getötete wohl für immer als verschollen gegolten … Mit Gewalt riss Elsa sich von dem Haus los, und ohne sich noch einmal umzudrehen, hastete sie davon. 

 

War der Grund für ihren Besuch in Zehdenick damit also erledigt, so wollte sie jedoch nicht sofort heimkehren. Viel zu selten war sie hier, deshalb schlug sie den Weg zum Markt ein. Zwei Frauen liefen ein paar Schritte neben ihr her, auf dem Rücken Kiepen voller Möhren und in den Händen Tonkrüge mit Milch. Die beiden waren in ein Gespräch vertieft, bei dem es um einen Mann ging, der offenbar beiden gefiel. Lautstark und ohne sich im geringsten darum zu scheren, ob andere sie hörten, malten sie sich aus, wie es wäre, wenn dieser Mann anstelle ihrer langweiligen Ehemänner in ihrem Bett liegen würde. Es waren Bilder von solch deftiger Art, dass Elsa die Frauen nicht nur entgeistert anstarrte, sondern für einen Moment sogar den Henker mitsamt seinem Strick vergaß. „Hör gut zu, Kleine, bei uns kannst du was lernen“, rief die eine ihr zu, worauf beide laut zu lachen begannen. 

 

Noch ein Stück geradeaus, und schon kam das Rathaus in Sicht, vor dem der Markt stattfand. Von den Ständen, die die Stadt unterhielt, waren nicht alle besetzt. Das übliche Bild an normalen Tagen, ganz 



anders als zu besonderen Anlässen, wenn Händler von außerhalb anreisten und sich mitunter so viele Besucher zwischen den Ständen drängten, dass kaum ein Vorwärtskommen war. An diesem Tag gab es fast ausschließlich Lebensmittel zu kaufen, von Brot und süßem Gebäck über Würste und Fleisch bis zu Milch und Käse und - was Elsa bei ihren Besuchen jedes Mal von neuem erstaunte - Berge von Zwiebeln und Möhren. Ein Stand mit bunten Tüchern und billigem Schmuck war die einzige Abwechslung an diesem Tag. Eine Weile durchstöberte sie das Angebot,  und nur allzu gern hätte sie etwas für sich gekauft. Doch war für den Strick fast das gesamte Geld draufgegangen, das Jakob ihr mitgegeben hatte, und da sie keinen neuen Streit wollte, beschränkte sie sich auf das Anschauen. Missmutig wandte sie sich schließlich ab, als sie auf einmal am Ende des Marktes ein Zelt entdeckte, das sie zusammenzucken ließ. Von der Form her ein ganz gewöhnliches Zelt, war es seine Farbe, die die Reaktion bei ihr ausgelöst hatte: ein helles Blau, das unter dem Sonneneinfall ein wenig schimmerte wie ihre Perle. „Ist dir nicht gut, junge Frau?“, hörte sie eine Stimme neben sich. Sie gehörte einer Hökerin, die auf einem winzigen Schemel hinter einem Korb voller Eier saß, die angezogenen Knie fast unter dem Kinn. „Nein, nein, es ist alles in Ordnung“, entgegnete Elsa. „Na, dann ist ja gut“, gab die Frau zurück und wandte sich einer Kundin zu. Elsa hatte das Zelt noch immer im Blick. Sie zögerte, entschloss sich dann aber, ihrer Neugier nachzugeben und ging hin. Dieses bläuliche Schimmern … als hätte jemand die Farbe ihrer Perle auf den Stoff übertragen … „Ist da jemand?“, erkundigte sie sich und schlug die Zeltbahn am Eingang ein wenig zur Seite. Drinnen saß eine Frau von schwer schätzbarem Alter, mit lang herabfallenden Haaren und einem schmalen Gesicht. Bekleidet war sie mit einem Umhang in tiefem Rot, das einen kräftigen Kontrast zu der hellen Farbe ihres Zeltes bildete. Sie hielt einen Gegenstand in der Hand, den Elsa

nicht gleich erkennen konnte, da die Frau einen Schatten darauf warf. Als sie aufsah, wurde eine Glaskugel sichtbar.

 

„Tritt ein, mein Kind!“, sagte die Frau mit einer Stimme, die weich und süßlich klang. Eine Wahrsagerin, ging es Elsa durch den Kopf. Gehört hatte sie von solchen Frauen schon des öfteren, aber noch nie war sie einer begegnet. Sie überlegte, ob sie der Aufforderung Folge leisten sollte, doch gab sie sich schließlich einen Ruck. An der Innenseite des Zeltes konnte sie verschiedene Zeichen und Muster erkennen, von denen einige hohl und mit kräftigen Farben ausgemalt waren. „Setz dich!“, forderte die Wahrsagerin sie auf und deutete auf einen mit blauem Stoff bespannten Schemel. Die Worte der Frau hatten etwas Bestimmendes, dem Elsa sich nicht entziehen konnte. Sie nahm Platz. „Wie heißt du, mein Kind?“, wollte die Frau wissen. Elsa nannte ihren Namen. „Ein schöner Name“, war die Antwort, „und er passt sehr gut zu dir.“ Was heißt: er passt zu mir? dachte Elsa, wagte aber nicht zu fragen. „Du willst von mir wissen, was die Zukunft für dich bereithält, nicht wahr, Elsa? Ich kann es dir sagen. Gib mir einen Taler, und du sollst alles erfahren.“ Elsa erinnerte sich daran, wie Jakob einmal mit ihr über solche Frauen gesprochen hatte. „Von wegen Wahrsagen“, hatte er zu ihr gesagt. „Das sind Betrügerinnen. Sie nehmen den Leuten ihr Geld ab und erzählen ihnen anschließend Dinge, die nicht mehr wert sind als der Dreck unter ihren Fingernägeln.“ Obwohl Elsa die Worte nicht aussprach, ahnte die Frau, was in ihr vorging. „Für dich mache ich es auch für einen halben Taler“, sagte sie. „Weil du mir sympathisch bist. Du erinnerst mich an meine Tochter. Hast dieselbe zarte Haut wie sie und ein ebenso hübsches Gesicht.“ Elsa rang noch mit sich, als die Wahrsagerin plötzlich aufstand. „Gut, wenn du nicht willst“, sagte sie schroff und wandte sich einer zur Hälfte heruntergebrannten tiefroten Kerze zu. Im selben Moment flackerte diese hell auf, ohne dass die 



Frau sie berührt hatte. Mit offenem Mund starrte Elsa abwechselnd auf die Frau und die Kerze. Sie überlegte. Ein halber Taler war nicht wenig, aber sie konnte Jakob ja erzählen, der Strick habe zwei und einen halben Taler gekostet, wie sollte er das nachprüfen. Und dafür würde sie jetzt erfahren, ob sie vielleich doch noch Kinder … „Zeig mir meine Zukunft!“, verlangte sie abrupt. Langsam wandte sich die Wahrsagerin ihr wieder zu. „Gerne, mein Kind, wenn du das möchtest.“

 

Elsa kramte den halben Taler aus ihrer Tasche und reichte ihn der Frau, worauf diese sich wieder setzte und in die Glaskugel sah. Und dazu flüsterte sie Worte, die Elsa nicht verstand, die ihr aber auch dann völlig unverständlich gewesen wären, wenn sie sie genau gehört hätte. Eine Weile fuhr die Wahrsagerin auf diese Weise fort, schloss und öffnete dabei die Augen und brachte ihr Gesicht nah an die Kugel heran, so als wollte sie diese mit ihren Blicken durchbohren. Schließlich schien sie zu einem Ergebnis gelangt zu sein. „Das Leben meint es zur Zeit nicht gut mit dir, mein Kind. In meiner Kugel sehe ich Kummer und Ärger. Dein Mann …“ - sie hob den Kopf - „du hast doch einen Mann, nicht wahr? Wie heißt er?“ - „Jakob“, antwortete Elsa. - „Jakob“, murmelte die Wahrsagerin, „wie der Erzvater der Israeliten. Er ist ein Mann, der …“ - Elsa hielt es nicht länger aus. „Werd ich Kinder haben?“, fiel sie der Frau ins Wort. Diese machte ein unwilliges Gesicht wegen der Unterbrechung, ging aber auf die Frage ein. „Du hast dich sehr darum bemüht, das sehe ich. Und dein Wunsch ist stark. Glaub fest daran, dann wirst du Kinder haben. Nicht nur eines, das kann ich dir versichern. Dein Jakob kann sich glücklich schätzen, dass er eine solche Frau hat.“ Wann die Kinder denn kommen würden, wollte Elsa wissen, ob das schon bald sein würde oder ob sie sich noch längere Zeit gedulden müsse, doch die Frau schüttelte nur bedächtig den Kopf. Offenbar hatte die Kugel keine Antwort auf diese Frage. Im nächsten Moment hielt die Wahrsagerin ein Tuch in der Hand und deckte es über die Kugel. „Bewahre in deiner Brust, was dir enthüllt wurde!“, sagte sie in einem feierlichen Tonfall. Und danach sagte sie nichts mehr, was 

Elsa als eine Aufforderung zum Gehen empfand. Sie stand auf. Ein gütiges Kopfnicken war das Letzte, was sie von der Frau wahrnahm, dann war sie aus dem Zelt hinaus und stand wieder auf dem Markt. Fast wäre sie mit einem Mann zusammengestoßen. Er blickte erst sie an und dann das Zelt, und dabei hatte sein Gesicht einen abfälligen Ausdruck. Elsa wandte den Blick ab. Wie sollten Männer auch Verständnis haben für das, was sie gerade getan hatte!

 

Zum Schluss noch die Stadtkirche. Ihr stattete Elsa jedesmal einen Besuch ab, wenn sie sich in Zehdenick aufhielt. Der massige Turm aus Feldsteinen beeindruckte sie immer aufs Neue, ebenso wie die Glocke mit ihrem durchdringenden Klang, den sie bis in die Fingerspitzen spürte. Am meisten mochte sie es, wenn die Glocke zur Mittagszeit gleich zwölf Mal hintereinander schlug - so laut, dass es eigentlich bis nach Curthschlag zu hören sein müsste, jedenfalls kam es ihr so vor. Und dann war da auch noch das Innere der Kirche: der große Raum, die Bilder von der Leidensgeschichte des Herrn an den Wänden, der geschmückte Altar, vor allem aber der Jesus am Kreuz, der so echt aussah, dass es sie nicht erstaunen würde, stiege er plötzlich zu ihr herab. Das ganz große Wunder von Zehdenick wäre das dann. Ein noch größeres als die blutende Hostie, die Zehdenick einst über die Stadtgrenzen hinaus bekannt gemacht hatte und zu einem berühmten Pilgerort wie Lourdes oder Santiago de Compostela. Jedenfalls hatte ihr Jakob das so erzählt.

 

Jakob! Ein Schreck durchfuhr sie, als ihr sein Name in den Sinn kam. Sie solle sich beeilen, hatte er am Morgen zu ihr gesagt, zu Hause gebe es noch jede Menge Arbeit für sie. In solchen Fragen war Jakob sehr ungeduldig, und wenn sie sich verspätete, konnte das wieder in einen Streit ausarten. Wo sie diese Streitereien doch so sehr hasste! Elsa ließ ihren Blick ein letztes Mal durch das Kirchenschiff wandern, und war gleich darauf wieder auf der Straße. Ein schmaler Weg führte die Rahmengasse entlang und am Militärlazarett vorbei. Plötzlich näherte 



sich ihr ein Mann von hinten und legte ihr die Hand auf die Schulter. Erschrocken fuhr sie herum und wollte den Mann schon zurechtweisen, als sie ihn erkannte - Ulrich, der Sohn des Schulzen aus Curthschlag. Allerdings stand er diesmal nicht in seinen üblichen Kleidern vor ihr, in denen sie ihn kannte, sondern in der Uniform eines Soldaten. „Guten Tag, Ulrich“, sagte sie, verwirrt von der unerwarteten Begegnung. Dass er zu den Soldaten gegangen war, hatte sie gewusst, und auch, dass er in der Zehdenicker Garnison stationiert war, aber gesehen hatte sie ihn schon lange nicht mehr. „Guten Tag, Elsa“, antwortete er. „Wie schön, dich zu treffen.“ Sie nickte als ein Zeichen, dass sie sich ebenfalls freute. „Ich hab des öfteren an dich gedacht, und jedesmal hab ich mich gefragt, wie es dir seit deinem Weggang aus Curthschlag ergangen ist. Fühlst du dich wohl bei den Soldaten?“ Die Andeutung eines Lächelns überzog sein Gesicht und bildete kleine Furchen unter den Augen. Ein Anblick, den sie kannte und der sie immer für ihn eingenommen hatte. „Das Paradies ist es nicht“, entgegnete er. „Bei den Preußen ist das Militär keine Kleinigkeit, nicht umsonst gelten wir als eine der strengsten Armeen. Viel Exerzieren, viel Paradieren, vor allem aber Gehorchen, Gehorchen und noch mal Gehorchen! Wer gegen die Regeln verstößt, für den haben sie sich sehr unschöne Strafen ausgedacht. Aber glaub mir, dennoch ist es besser als im Dorf bei meinen Brüdern.“ Wie sehr musste er unter ihnen gelitten haben, dachte sie, wenn ihm das Militär als die bessere Wahl galt. „Aber der Krieg“, gab sie zu bedenken. „Ich meine, wenn Krieg ist und du ..“ - „Weit und breit ist kein Krieg in Sicht“, unterbrach er sie. „Aber natürlich ist es nicht unsere Bestimmung als Soldaten, für die Tuchmacher Wolle aufzuspannen oder für einen Hungerlohn jemandem das Holz zu hacken.“ Sie sah ihn fragend an. „Du hast schon richtig verstanden“, fuhr er fort, „Wolle aufspannen und Holz hacken. Unser Sold ist gering. Wenn wir uns nichts dazuverdienen würden, könnten wir davon nicht leben. Nicht wenige von uns haben eine Familie mit Frau und Kindern, die brauchen etwas für die hungrigen Mägen. Ich selbst bin allein. Ich verdiene Geld, indem ich Holz hacke. Für den Leiter des Eisenwerks.“ 

Elsa zog die Brauen hoch. Offenbar eine Arbeit mit einem gewissen Ansehen, jedenfalls danach zu urteilen, wie er die Worte „Leiter des Eisenwerks“ ausgesprochen hatte. Von diesem Werk hatte sie schon gehört. Vor allem Kanonenkugeln stellten sie dort her, aber auch Hämmer, Töpfe, Gewichte und allerlei anderes. Für Zehdenick war es ein sehr wichtiges Werk. Und bei dem Leiter dieses Werks hackte Ulrich nun also Holz.

 

Elsa wollte gerade vorschlagen - auch wenn Jakob auf sie wartete -, die wenigen Schritte zur Havel zu gehen und dort noch ein wenig miteinander zu reden, als zwei Männer auf sie zukamen. Ulrich straffte sich und grüßte nach Art der Militärs. „Der Zahlmeister und der Rossarzt“, erklärte er ihr, als die beiden vorbei waren. „In Zehdenick steht eine Menge Kavallerie, deshalb der Rossarzt.“ - „Manchmal hab ich das Gefühl, jeder zweite Einwohner in der Stadt gehört zum Militär“, sagte Elsa. „Ständig begegnen einem Männer in Uniform. So wie du.“ Sie trat einen Schritt zurück und betrachtete ihn von oben bis unten. „Du siehst gut aus in deiner Uniform. Sehr männlich und stark. Ich wünsche dir nur, dass du nicht bald …“ - „… in den Krieg ziehen musst?“, vollendete er ihren Satz und schwieg dann. Sie versuchte, in seinem Gesicht zu lesen. Zum zweiten Mal hatte sie von Krieg gesprochen, und diesmal hatte er nicht wiederholt, dass keiner in Sicht sei. Hatte er vielleicht doch Angst davor? Einige Augenblicke lang sahen sie sich nur an, und keiner wusste, was er sagen sollte. Schließlich ergriff Ulrich noch einmal das Wort. „Ich muss jetzt gehen. Die Zeit des Appells naht, und ich muss vorher noch in meine Unterkunft. Ich hab eine Kammer bei einer Familie, so wie viele Soldaten hier in der Stadt. Das kleine gelbe Haus in der Fischergasse, vielleicht hast du es schon mal gesehen. Ich mache mich nützlich für die Familie, und dafür lassen sie mich bei sich wohnen.“ Er lächelte. „Du siehst, es ist gar nicht so anders als in Curthschlag: Ich gehe einer ganz normalen Arbeit nach und lebe bei ganz normalen Leuten. Allerdings bei sehr viel netteren als meinen Brüdern. Meinewegen soll



sie der Teufel holen!“ Er reichte ihr die Hand. „Leb wohl, Elsa, es war schön, dich zu sehen.“ - „Leb auch du wohl, Ulrich. Und pass auf dich auf. Damit wir uns irgendwann mal wieder über den Weg laufen können.“

 

Weit mehr als eine Stunde benötigte Elsa gewöhnlich für die Strecke von Zehdenick bis in ihr Dorf. Meist war sie ungeduldig dabei und wünschte, sie könnte fliegen, um schneller am Ziel zu sein. Diesmal jedoch war es anders. Diesmal war sie dankbar für die Zeit. So viel war während ihres Aufenthalts in Zehdenick geschehen, da war es gut, dass sie sich auf dem Rückweg noch einmal Gedanken über ihren Besuch machen konnte. Über den Henker und seinen Strick. Über die Wahrsagerin. Und nun auch über die Begegnung mit Ulrich. Und auf einmal ertappte sie sich, dass sie sogar langsamer lief als gewöhnlich. Auch wenn sie für den Weg nach Curthschlag dadurch noch länger brauchen würde - sollte Jakob doch warten!