27. Kapitel

 

(Oktober 1756, in Sachsen an der Elbe) 

 

 

„Dieser verdammte Regen! Wenn der nicht endlich aufhört, wachsen uns noch Schwimmhäute zwischen den Zehen!“ Ulrich steckte den Kopf aus dem Zelt, aber es war immer noch derselbe Anblick, der sich ihm bot. Es war schon der zweite Tag, an dem das Wasser vom Himmel fiel, als wollte es die ganze Erde ertränken. Dunkle, schmutziggraue Wolken hingen wie geschmolzenes Blei über dem Land, sowohl in Richtung Elbtal als auch nach Pirna hin, wo die verdammten Sachsen sich eingeigelt hatten, um deretwillen das ganze Bataillon hier nun schon seit Tagen ausharrte. Unweit eines Ortes mit dem Namen Langenhennersdorf. Was für ein aufgeblasener Name für ein solch winziges Nest! „Man kann die Wolken beinahe mit Händen greifen“, stöhnte Simon. „Noch ein Stück tiefer, und sie verschlucken uns!“ - „Dich würden sie bestimmt wieder ausspucken“, tönte es aus dem hinteren Teil des Zeltes, wo Rudolf eingehüllt in eine Decke saß. Ein erfolgloser Versuch, sich warm zu halten, waren die dünnen Militärdecken für das Oktoberwetter in dieser Gegend doch völlig ungeeignet. Simon hatte die Bemerkung mit der Wolke überhört. Nicht, weil der Regen wie verrückt auf das Zeltdach trommelte und jedes Gespräch erschwerte, nein, Simon hatte sie absichtlich überhört. Wozu sich mit Rudolf anlegen! Die Nerven lagen bei allen blank, aber war das ein Wunder bei diesem grässlichen Wetter?

 

Ulrich hatte sich wieder ganz in das Zelt zurückgezogen. Er wischte sich den Regen aus dem Gesicht. Fünf Wochen war es her, seit sie in Sachsen eingefallen waren, am 29. August im Jahre des Herrn 1756. Eine Kriegserklärung hatte es nicht gegeben. Man munkelte, König Friedrich habe einen Angriff anderer Mächte auf sein Land befürchtet, und um dem zuvorzukommen, habe er die preußische Armee in Bewegung gesetzt. Eine schlagkräftige, gut ausgebildete Armee, die sein Vater einst stark gemacht hatte. Welche Kriegsziele der König verfolgte, wussten sie nicht. Woher sollten sie das auch wissen, drei gemeine Soldaten von ein paar zehntausend, die vermutlich alle genau so ahnunslos waren wie sie. Allenfalls die wichtigsten Offiziere dürfte 

der König eingeweiht haben. Bereits am 9. September hatte die Armee Dresden kampflos besetzt, und seit dem darauffolgenden Tag stand der Belagerungsring um Pirna. Falls die dortigen Truppen sich nicht rechtzeitig mit Verpflegung eingedeckt hatten, würden sie jetzt wohl bereits hungern. Und dabei sind hungrige Soldaten ganz schlecht. Soldaten müssen etwas im Magen haben, wie sollen sie sonst kämpfen! Also konnte man wohl davon ausgehen, dass die Sachsen über kurz oder lang einen Ausfall wagen würden, und genau für diesen Fall standen sie hier bei diesem Ort mit dem aufgeblasenen Namen - er selbst, Simon und Rudolf und all die anderen. Standen bereit, oder richtiger: hockten in ihren Zelten und warteten, dass der Regen endlich aufhörte. Dieser gottverdammte, alles durchnässende, kein trockenes Fleckchen mehr übrig lassende Regen!

 

„Die Sachsen werden ganz schön fluchen, wenn sie ihre Kanonen durch den Matsch ziehen müssen“, sagte Simon, nachdem sie eine Weile geschwiegen hatten. „Die armen Sachsen“, spöttelte Rudolf, „da werden wir es mit unseren Kanonen bestimmt sehr viel leichter haben.“ Simon schüttelte unwirsch den Kopf. „Nein, natürlich nicht. Allerdings können wir ja auf besseres Wetter warten, während den Sachsen die Zeit davonläuft. Die müssen aus dem Arsch kommen, bevor sie Katzen anknabbern.“ Ein Bild, bei dem sich selbst Rudolf ein Grinsen nicht verkneifen konnte. „Für die gemeinen Soldaten die Katzen, für ihren allerdurchlauchtigsten Herrn Kurfürsten eine reich gedeckte Tafel. Das nenn ich mal wieder Gerechtigkeit!“ - „Wär’s denn bei uns anders?“, warf Ulrich ein. Gleich nach ihrem Einmarsch hatte sich der sächsische Kurfürst Friedrich August auf den Königstein zurückgezogen, die mächtige Bergfestung, die weit und breit ihresgleichen nicht hatte. Seither harrte er dort aus - ohne seine Familie, die er in Dresden gelassen hatte -, wobei es ihm den Gerüchten zufolge an nichts mangelte. Noch die köstlichsten Lebensmittel wurden von der preußischen Armee zu ihm durchgelassen, und dazu alles, was seiner Bequemlichkeit diente, ja selbst Kuriere durfte der Kurfürst empfangen, 



obwohl die Armee das leicht verhindern könnte. „Auch ein festgesetzter Kurfürst ist für unseren König halt etwas Besonderes“, höhnte Simon. „Mögen seine Untertanen auch nichts zu beißen haben, er soll sein Leben standesgemäß fortsetzen können. Also schleppen sie ihm die fetten Braten in seine Festung.“ Ulrich stöhnte. „Sprich mir nicht von fetten Braten! Zur Zeit ist unsere Verpflegung noch erträglich, aber wartet mal ab - wenn der Krieg länger dauert, wird auch bei uns Schmalhans Küchenmeister. Die schon länger bei der Truppe sind, können ein Lied davon singen: verschimmeltes Brot und ranzige Butter, zähes Fleisch und vergammelte Würste, und wenn das alle ist, dünne Suppen. Mit Fett zubereitet, das du nicht mal deinen Schuhen zumuten würdest.“

 

Die Plane wurde zur Seite geschlagen, und ein Kopf schob sich ins Zelt. Der Hut triefte und ebenso das Gesicht. „Ist der Feldwebel vom zweiten bei euch?“, stieß der Mann hervor. Doch noch bevor die drei antworten konnten, hatte er sich bereits mit einem Blick davon überzeugt, dass der Gesuchte nicht anwesend war, worauf er wieder verschwand. „Der Feldwebel vom zweiten Bataillon - das ist doch der mit dem Rosenkranz unterm Hut?“, sagte Rudolf. Ulrich nickte. „So heißt es jedenfalls. Weil’s Glück bringen soll, meint er.“ - „Gegen Regen ist sein Rosenkranz offenbar machtlos“, sagte Simon und grinste. Rudolf warf Ulrich einen Blick zu. „Genau so wie dein Bild. Das scheint auch machtlos gegen diesen verdammten Regen zu sein, sonst wären wir ihn endlich los.“ Ulrich funkelte ihn an. Bei dem Bild handelte es sich um ein aufklappbares Medaillon, das er in seiner Hosentasche trug und auf dem sich eine Abbildung seiner Zwillingsschwester befand. Gertrut hatte sie geheißen, ein Freund seines Vaters hatte sie kurz vor ihrem Tode gemalt. Sie war eine hübsche junge Frau gewesen und hatte das Leben noch vor sich gehabt, doch dann war sie eines Tages immer kränklicher geworden, regelrecht verwelkt wie eine Blume ohne Wasser. Einen Monat später war sie tot gewesen. Und weil er, Ulrich, und seine Zwillingsschwester ein sehr enges Verhältnis zueinander gehabt hatten, war dieses Medaillon mit ihrem Bild nicht nur sein ständiger Begleiter, sondern er duldete es auch nicht, dass jemand einen Witz darüber machte.

 

Gegen Abend nahm der Regen noch einmal zu. Wie aus Kübeln stürzte das Wasser auf die Erde und ließ nachgerade den Verdacht aufkommen, der Himmel könnte sich womöglich niemals mehr schließen. Doch dann rissen die Wolken auf, kleine Lücken zuerst, die sich allmählich vergrößerten, und als es auf den Zapfenstreich zuging, hatte der Regen beinahe ganz aufgehört. Auf das Exerzieren hatten die Kommandeure auch an diesem Tag wieder verzichtet, wohl weniger um der einfachen Soldaten als um ihrer selbst willen, hätten die himmlischen Fluten doch auch vor ihnen nicht haltgemacht. Kurz vor Anbruch der Dunkelheit rief ein barsches „Raustreten!“ eines Offiziers die drei Männer vor das Zelt, um die Nachtwachen für diesen Teil des Militärlagers einzuteilen. Der Wachdienst ging reihum, jeweils zwei Nächte das eine Zelt, danach war das nächste an der Reihe. „Der hat gesoffen“, flüsterte Ulrich Simon zu, ein wenig zu laut, was der Offizier mit einem „Maul halten, Kerl!“ und einem Stockhieb quittierte. Er ließ die Augen von einem zum anderen wandern und wollte gerade die Reihenfolge der drei für die Wache bestimmen, als vom Pulverlager her eine Marketenderin mit einem Korb Brot erschien - oder wie alle vier Männer, gleichgültig ob Offizier oder Gemeine, es einmütig ausgedrückt hätten: die Marketenderin. Eine mit allen Vorzügen des weiblichen Geschlechts bestens ausgestattete dunkelhaarige Frau, die von den Soldaten im Lager weniger wegen ihrer Fähigkeit beim Austeilen von Brot geschätzt wurde, als vielmehr wegen der Gefälligkeiten, die sie dem einen oder anderen außerhalb ihres eigentlichen Aufgabengebiets gelegentlich erwies. Acht Augen verfolgten, wie sie das Brot auf die Zelte verteilte, während der Offizier gleichzeitig die Einteilung für die Nachtwache vornahm.  „Und Gnade euch Gott, wenn einer schläft!“, fügte er abschließend noch hinzu, derselbe Spruch wie jedesmal, dessen Aufsagen ihm selbst jedoch in diesem Augenblick ebenso wenig bewusst wurde wie das Hören den drei Soldaten. Überflüssige Worte, die trotzdem immer wieder gesagt wurden.

 

In dieser Nacht verhielt es sich mit den „überflüssigen Worten“ des Offiziers allerdings anders. Diesmal hätten sie sehr wohl ihre Berechtigung gehabt, denn was er damit hatte ausschließen wollen, genau das geschah. Ulrich, der nach Simon und vor Rudolf die Wache 



übernahm, schlief ein, und das ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, als zwei sächsische Kundschafter im Feldlager der Preußen herumspionierten. Und wäre da nicht Eberhard von Gröben gewesen, der älteste Offizier der Truppe, dessen Blase durch zahllose in Kälte und Feuchtigkeit verbrachte Nächte in tausendundeinem Militärlager arg in Mitleidenschaft gezogen war - die sächsischen Spione wären nach Erledigung ihres Auftrags unbehelligt davongekommen. So aber entdeckte der Offizier sie, als er sich beim Hervorholen seines Geschlechts zwischen den verschiedenen Kleidungsstücken und der Decke, die er sich umgeworfen hatte, verhedderte und dabei den Fluch „Scheiße, verdammte!“ ausstieß. So laut, dass die Spione ihn hörten, auf der Stelle kehrt machten und schnell wie ein Blitz davonstoben. Worauf sich Eberhard von Gröbens Blase vor Schreck ganz von alleine zu entleeren begann, und er angesichts dieser für einen gestandenen Militär allergrößten Peinlichkeit um so lauter und ungehemmter zu schreien anfing: „Alarm! Alarm! Der Feind ist da! Zu den Waffen!“ Im Nu war das gesamte Feldlager wach. Aus allen Zelten stolperten Soldaten, eben noch schlafend, jetzt aber hellwach, war „Der Feind ist da!“ doch von allen Schreckensmeldungen die dramatischste. Hornsignale ertönten, Offiziere brüllten Befehle, alles war in heller Aufregung und jeder, der laufen konnte, hetzte dem unsichtbaren Feind hinterher.

 

Auch Ulrich rannte, wobei ihm speiübel war, nachdem er den Grund für den allgemeinen Aufruhr begriffen hatte. Er war eingeschlafen! Es war seine Wache gewesen, und er war eingeschlafen, und das ausgerechnet in dieser Situation! Das Schlimmste, was ihm hatte passieren können! Da half es auch nichts, dass er nun um so mehr rannte, um die Spione zur Strecke zu bringen. Die Spione, die längst wieder auf dem Weg zu ihrer Einheit waren, weshalb die Jagd schließlich ergebnislos abgebrochen wurde. Blieb die Frage, welche Erkenntnisse der Feind bei seiner dreisten Aktion hatte gewinnen können - eine Frage, die 

naturgemäß niemand beantworten konnte, weder die Mannschaften, noch die Offiziere und damit auch nicht derjenige von ihnen, der für die Einteilung der Wache in diesem Teil des Lagers zuständig gewesen war. Umso mehr tobte er nun, nachdem er die drei von ihm Eingeteilten zusammengetrieben hatte. Allerdings stand der Offizier nicht alleine vor ihnen. Zwar führte er das Wort, aber einige weitere Offiziere waren ebenfalls dabei und lauerten, was die Befragung der drei ergeben würde, von denen ja einer der Verantwortliche für diese ungeheuerliche Verfehlung sein musste. In Ulrichs Kopf wirbelten die Gedanken wild durcheinander. Es gab nur einen einzigen Weg für ihn, die Angelegenheit unbeschadet zu überstehen. Keinen schönen Weg, ganz im Gegenteil einen schmutzigen und zutiefst unmoralischen. Doch würde man ihn als den Schuldigen entlarven, so würde das eine Bestrafung zur Folge haben, die er sich gar nicht erst vorstellen wollte. Weshalb er beschloss, alles auf eine Karte zu setzen. „Rudolf hatte Wache“, beantwortete er die Frage des Offiziers. Und an den neben ihm stehenden Simon gewandt, fügte er so leise hinzu, dass nur der ihn hören konnte: „Sonst …“ Ein einziges unschuldiges Wort nur, aber Simon hatte den Wink verstanden. Was daran lag, dass er ein mit allen Wassern gewaschener Halunke war, der ganz generell so wenig Skrupel besaß wie Ulrich in diesem Augenblick. Für Simon ging es um seine eigene Haut, hielt das preußische Militär doch für einen Soldaten wie ihn, der es mit anderen Soldaten trieb, eine ganze Palette von Strafen bereit. „Verstanden“, raunte er Ulrich deshalb zu.

 

Rudolf stand derweil da wie zu einer Salzsäule erstarrt. Zwar hatte er Ulrichs Worte gehört, aber es brauchte einige Zeit, bis er begriff, was hier gespielt wurde. Dann jedoch reagierte er um so heftiger. Laut und wortreich bestritt er, der Verantwortliche zu sein. Er hätte erst die dritte Wache übernehmen sollen, stieß er hervor. Simon hatte die erste, Ulrich die zweite, und genau in dessen Zeit hatte sich der Vorfall mit den Spionen ereignet. „Ihr habt uns doch eingeteilt“, rief er dem Offizier zu. 



„Ihr müsst Euch doch erinnern … die Marketenderin …“ Rudolf hatte noch nicht ausgesprochen, als der Offizier mit einem Schlag puterrot im Gesicht anlief. Ein Umstand, der nur deshalb niemandem auffiel, weil es im Schein der Fackeln nicht zu erkennen war. „Halt’s Maul, du unverschämter Kerl!“, schrie er, während er gleichzeitig krampfhaft in seiner Erinnerung suchte: die Marketenderin … da war dieses rassige Weibsstück gewesen … und vorher das Würfeln mit den Kameraden und der Wein  … aber was hieß das schon … wollte ihm dieser Kerl vielleicht einen Strick drehen? „Ich bin unschuldig!“, rief Rudolf. „Ich war es nicht.“ Und an Ulrich und Simon gewandt: „Ihr wisst, dass ich es nicht war! Ihr könnt mich doch …“ Weiter kam er nicht, denn auf ein Zeichen des Offiziers stürzten sich zwei Soldaten auf ihn und nahmen ihn in ihre Mitte. „Du hattest Wache!“, brüllte der Offizier, Ulrich und Simon im Blick. Die nickten, dabei Simon diesmal sogar heftiger als Ulrich. Der Offizier trat ganz dicht an Rudolf heran, der zu zittern begonnen hatte. „Du elender Sauhund, wir sind hier nicht in einem Kirchenchor! Bei uns geht’s um Leben und Tod! Einmal nicht hingeschaut, und wir sind Futter für die Würmer! Du weißt, was ein Wachvergehen bedeutet. Und falls nicht, wirst Du es lernen. … Weg mit ihm!“ Den letzten Satz hatte der Offizier an die beiden Soldaten gerichtet, die den heftig Protestierenden abführten.

 

Wäre alles wie üblich verlaufen, hätte Rudolf gleich am nächsten Morgen seine Strafe erhalten, doch der Tag begann anders als erwartet. Kurz nach Sonnenaufgang preschten Boten ins Lager mit der Nachricht, dass der erwartete Ausfall der Sachsen aus Pirna begonnen hatte. Durfte man den Berichten der eigenen Kundschafter trauen, so war es allerdings nicht allein der Hunger, der sie dazu getrieben hatte - oder um bei Simons Bild zu bleiben: Es hätte in Pirna noch genügend Katzen zum Abknabbern gegeben. Entscheidender war diesen Berichten zufolge vielmehr die Absicht der Sachsen, sich auf dem anderen Elbufer mit Truppen der verbündeten Österreicher zu vereinen, um anschließend gemeinsam gegen die Preußen vorzugehen. In zwei 

Kolonnen marschierten die Sachsen deshalb auf Thürmsdorf zu, um von dort mittels einer Pontonbrücke die Elbe zu überqueren. Was die Preußen wiederum verhindern wollten, weshalb die Kommandeure den Befehl gaben, die Sachsen eiligst einzuholen und ihnen noch vor dem Erreichen der Elbe einen entscheidenden Schlag zu versetzen. Auch die in Langenhennersdorf stationierten Bataillone sollten an der Operation teilnehmen, was bei den Soldaten unterschiedliche Gefühle auslöste. Begrüßten die einen die Tatsache, dass das wochenlange, nur von Exerzierübungen unterbrochene Herumsitzen endlich ein Ende fand, so sahen die anderen dem zu erwartenden Gefecht wegen des unsicheren Ausgangs - morgens noch gesund, abends vielleicht schon tot - mit gemischten Gefühlen entgegen. Rudolf nahm diesen Gang der Ereignisse mit einem Gefühl der Erleichterung zur Kenntnis, bedeutete sie für ihn doch eine Galgenfrist, wenngleich die zu erwartende Bestrafung damit keineswegs aufgehoben, sondern nur aufgeschoben war. Vorausgesetzt natürlich, die Preußen behielten in der bevorstehenden Schlacht die Oberhand.

 

Was dann auch der Fall war. Infolge des Dauerregens waren die Wege derart aufgeweicht, dass die Sachsen mit ihren schweren Kanonen die Elbe nur mit Mühe erreichten, nachdem sie zuvor einen Teil ihrer Kanonen hatten zurücklassen müssen. Mit der Folge, dass das geplante Übersetzen über den Fluss im Wesentlichen misslang und die beabsichtigte Vereinigung mit den österreichischen Truppen nicht zustande kam. Am 16. Oktober kapitulierten die Sachsen. Zeit für die Preußen, ihren Sieg zu feiern, Zeit aber auch, um Rudolfs Bestrafung in Angriff zu nehmen. Weil er sich eines Wachvergehens in einem besonders schwerwiegenden Fall schuldig gemacht hatte, verurteilte man ihn zu zweimaligem Spießrutenlaufen und anschließender unehrenhafter Entlassung aus der Armee. Als Rudolf das Urteil hörte, schluchzte er laut auf und warf sich in einem Ansturm der Verzweiflung auf die Erde. Er sei unschuldig, beteuerte er wie schon zuvor, doch so wenig, wie ihm sein früheres Bekunden geholfen hatte, 



so wenig half es ihm auch jetzt. Auch sein Betteln um Gnade blieb ohne Ergebnis. Gewaltsam zwang man ihn auf die Beine, riss ihm das Hemd vom Leib, und gleich darauf sah er sich zwei Reihen seiner Kameraden gegenüber, die eine zu seiner Rechten, die andere zur Linken und beide etwa drei Schritte voneinander entfernt. Wohl an die dreißig Mann auf jeder Seite mochten es sein, die alle mit einem Stock in der Hand auf den Delinquenten warteten. „Wer nachlässig schlägt“, dröhnte die Stimme des Offiziers, der den korrekten Ablauf der Prozedur überwachen sollte, „dem wird die gleiche Strafe zuteil. Also schlagt kräftig!“ Stille senkte sich über den Platz, auf dem neben den unmittelbar Beteiligten eine Vielzahl von Soldaten zusammengekommen war. Bestrafungen wie diese galten nicht nur dem Täter, sie bedeuteten stets auch eine Warnung für alle anderen, es diesem nicht gleichzutun. Und dann machte Rudolf den ersten Schritt. Damit er nicht zu schnell ging, lief ein Offizier rückwärts vor ihm mit einem Degen in der Hand, mit dem er auf Rudolfs Brust zielte. Kaum hatte sich dieser in Bewegung gesetzt, als die ersten auch schon ausholten und mit den Stöcken auf seinen nackten Oberkörper einzuschlagen begannen. Biss Rudolf bei den ersten Schlägen noch die Zähne zusammen und versuchte, die Schmerzen ohne eine Lautäußerung hinzunehmen, so hielt er das nicht mehr aus, als er gerade einmal die Mitte der Gasse erreicht hatte, sondern begann laut zu stöhnen. Bereits nach diesen noch wenigen Schlägen war seine Haut an mehreren Stellen aufgeplatzt, und mit jedem weiteren Schlag kamen neue Wunden hinzu. Blut floss aus ihnen, ergoss sich über seinen Rücken und lief ihm in die Hose, und schon als er die Gasse das erste Mal hinter sich gebracht hatte, war sein Rücken ganz rot. Beim zweiten Durchgang wollte Rudolf schneller gehen, doch der Degen des Offiziers ritzte seine Brust, so dass er einen Augenblick stehenblieb und dadurch noch mehr Hiebe einsteckte. Ihn schwindelte, er taumelte nur noch durch die Reihen, und lediglich die Angst, beim Stürzen noch mehr Schläge auf sich zu ziehen, ließ ihn durchhalten. Und während der ganzen Zeit wusste er, dass er unschuldig war und für die 

Verfehlung eines anderen büßte. „Gnade dir Gott!“, presste er mit erstickter Stimme zwischen den Zähnen hervor. „Gnade dir Gott!“, und dabei sah er Ulrich vor sich, er war der Schuldige, er hatte geschlafen, und deshalb hätte diese Bestrafung ihm gebührt. Ihm, aber auch Simon, weil der die Lüge gedeckt hatte. Ulrichs Bild war es, was er als Letztes sah am Ende dieser grausamen Tortur, nachdem er die Reihen zwei Mal hinter sich gebracht hatte und anschließend zu Boden stürzte, einfach umfiel und liegen blieb wie ein Stein. Weder  bemerkte er, wie die Anwesenden sich entfernten, noch wie der Feldscher sich seiner annahm, einen heilkräftigen Aufguss in seinen Wunden verteilte und mit dem Verbinden begann. Drei Tage dauerte es, bis er das Bewusstsein wiedererlangte. Und sein erster Gedanke galt Ulrich.