28. Kapitel

 

(Juli 1757, Zehdenick und Kurtschlag) 

 

 

Die Zehdenicker Schiffersfrau konnte sich kaum halten vor Lachen. „Wunderbar!“ rief sie. „Köstlich!“ und „Ja, zeig es ihm!“, und dabei hüpfte ihr gewaltiger Busen so heftig auf und ab, dass ein in ihrer Nähe stehendes Jüngelchen den Blick gar nicht mehr davon losreißen konnte. Sie selbst hatte die Augen ebenso wie zwei Dutzend weitere Zuschauer nach vorn gerichtet, auf die kleine, aus ein paar Brettern zusammengenagelte Puppenbühne, auf der nun wohl schon zum zwanzigsten Mal zwei kleine Engelchen den Versuch unternahmen, ein wild herumhüpfendes Teufelchen in ihre Gewalt zu bringen. Es sah ja auch allerliebst aus, wie die beiden mit ihren weißen Kleidchen, den Flügeln aus Hühnerfedern und den winzigen Heiligenscheinen hin- und hersprangen, immer wieder von der einen Seite der Bühne auf die andere jagten und dabei die absurdesten Verrenkungen machten, und wie das ganz in Rot gekleidete Teufelchen mit Hörnchen und dem echten Schwanz einer Ziege - jedenfalls eines Teils davon - es immer wieder schaffte, ihnen zu entwischen. Und dabei wäre es nur recht und billig gewesen, den kleinen Unhold in die Hölle zurückzustoßen, was auf der Bühne konkret bedeutet hätte: durch die rot angemalte und von angedeuteten Flammen umrandete Tür auf der rechten Seite, die der Eingang zur Unterwelt war. Was hatte das Teufelchen auch für Unruhe gestiftet, nachdem sein Herr und Gebieter - der große Teufel, den man allerdings nicht sah - ihm einen Ausflug zu den Menschen gestattet hatte! Dem Bürgermeister hatte es Salz in sein Bier geschüttet, einen Hut hatte es mit Wasser gefüllt, den sich prompt ein Bürger auf den Kopf setzte, und dann hatte es auch noch die Hähne mitten in der Nacht krähen lassen, allerlei Schabernack also, den die beiden Engelchen dem Teufelchen nicht länger durchgehen lassen wollten, deshalb die Jagd. „Treibt es in die Enge!“, rief ein Lastenträger, „Packt es am Schwanz!“, ein anderer, worauf mehrere Umstehende, von denen einige bereits glühende Gesichter vor Lachen hatten, laut mit einstimmten: „Ja, packt es am Schwanz! Packt es am Schwanz!“

 

Ulrich trat vom Fenster zurück und setzte sich auf einen Schemel, der neben einem Bett, einem Tisch und einem Wandbord der einzige 

Einrichtungsgegenstand in dem Raum war. Vorführungen von Schaustellern hatte er schon immer gern gesehen, wobei das Sehen mit seinem einen verbliebenen Auge auch nach fast einem halben Jahr der Gewöhnung noch immer anstrengend für ihn war. Ein Umstand, der ihm in Momenten wie diesem jedesmal von neuem schmerzlich bewusst wurde. Zwei Augen waren halt doch etwas anderes. Und dabei konnte er Gott danken, dass er wenigstens noch eines besaß, die Explosion seines Gewehrs hätte auch weit größeren Schaden anrichten können. In der Schlacht bei Prag war es geschehen. Zusammen mit einer Hundertschaft seiner Kameraden hatte er dem Feind gegenübergestanden, jeder mit dem Gewehr im Anschlag und bereit zu feuern, sobald der Kommandant den Befehl dazu gab. Was dieser zu schnell gemacht hatte, denn er, Ulrich, war mit dem Laden noch nicht ganz fertig gewesen. Plötzlich war er hektisch geworden, und schon war das Unglück passiert. Allerdings konnte auch das Gewehr schuld gewesen sein an dem Malheur, das ließ sich hinterher nicht mehr feststellen, aber was hätte es ihm auch genützt in seinem Elend. Nachdem der Pulverdampf sich verzogen hatte und keine Gefahr mehr bestand, hatten zwei Kameraden ihn zum Feldscher geschleppt, und obwohl ihm von dessen Können bis dahin noch nie viel Gutes zu Ohren gekommen war, hatte der ihm dennoch geholfen. Vielleicht war es auch nur Glück gewesen, auch das ließ sich hinterher nicht mehr sagen. Auf jeden Fall war ein Auge verloren, aber da das andere unverletzt geblieben war, konnte er wenigstens mit diesem noch sehen. Am schlimmsten war für ihn danach beinahe noch die Tatsache gewesen, dass die Preußen ihn wegen dieser Verwundung aus ihrer Armee entlassen hatten. „Dienstuntauglich“, hatte es geheißen, und zweifellos hatten sie damit Recht. Wenn er jetzt nicht einmal mehr den Schaustellern längere Zeit zusehen konnte, welchen Nutzen hätte er dann noch für die Truppe gehabt? 

 

Der aufbrandende Beifall auf der Straße war das Zeichen, dass die beiden Engelchen es endlich geschafft und ihren Widersacher in die Hölle getrieben hatten, wo er hingehörte. Gewiss kreiste unter den 



Zuschauern jetzt ein Hut, auch Schausteller mussten leben, und diese hier hatten sich mit ihrer Fantasie und ihrem spielerischen Eifer zweifellos einen Beitrag verdient. Hätte er, Ulrich, mehr Geld gehabt, so hätte er ihnen auch einen Obulus zugeworfen. Aber was er hatte, reichte gerade zum Leben, zusätzliche Ausgaben waren da nicht möglich. Ulrich lüftete die Augenklappe wie so oft, wenn sie ihm unangenehm wurde, als es auf einmal an seiner Tür klopfte. Noch bevor er „Herein!“ rufen konnte, wurde sie auch schon geöffnet und ein Junge trat in den Raum. Einen, den er aus Curthschlag kannte, auch wenn ihm der Name entfallen war. „Du sollst kommen“, sagte der Junge den Spruch auf, den man ihm aufgetragen hatte. „Deine Mutter ist krank. Sie will, dass du kommst.“

 

„Krank? Wie krank? Was hat sie?“

 

Der Junge machte ein verlegenes Gesicht, denn für diese Fragen hatte man ihm keine Antworten mitgegeben. Er druckste herum, bis Ulrich ihn unterbrach. „Lauf vor und sag Bescheid, dass ich komme. Ich beeil mich.“

 

Es dauerte denn auch nicht lange, und Ulrich befand sich auf dem Weg nach Curthschlag. Es war das erste Mal seit seinem Abschied von der Armee, dass er heimkehrte. Bilder zogen durch seinen Kopf, während er durch den märkischen Sand stapfte: seine beiden Brüder, deren gemeines Verhalten ihn veranlasst hatte, das Dorf zu verlassen und zu den Soldaten zu gehen; die Kämpfe und das verlorene Auge, was das Ende seiner militärischen Laufbahn bedeutet hatte; die Zeit im Lazarett und danach die Rückreise nach Zehdenick, eine lange dauernde und angesichts seines Zustandes äußerst anstrengende Reise, bei der er immer wieder auf Hilfe von anderen angewiesen war. Zum Glück hatte er wieder bei der Familie unterkommen können, bei der er vor dem Krieg gelebt hatte. Eine ungewöhnliche Familie, arm wie alle in der 

Gegend, aber so klein ihr materieller Besitz auch war, so groß war ihre Hilfsbereitschaft. Wie selbstverständlich hatten sie ihm wieder seine einstige Kammer überlassen, und außerdem hatten sie sich um seine Gesundheit gekümmert, die aufgrund seiner Verletzung und der nachfolgenden Reise in einem sehr schlechten Zustand gewesen war. Seit kurzem konnte er ihnen einiges von ihrer Mildtätigkeit vergelten: Da der Vater nach einem Unfall für längere Zeit ausfallen würde, hatte er einen Teil von dessen Aufgaben übernommen.

 

Doch wenn er über seine Vergangenheit grübelte, dann war da auch noch etwas anderes, woran er dachte: sein Verhalten bei dem damaligen Wachvergehen, wie er es zuvor bei sich selbst nicht für möglich gehalten hätte.

 

In Curthschlag traf Ulrich gegen Abend ein, als die Männer gerade vom Feld zurückkehrten und die Frauen damit beschäftigt waren, das Abendessen zuzubereiten. Aus jedem Haus stieg ihm der Geruch von Getreidebrei, von in Schmalz angebratenen Zwiebeln oder von Kohlsuppe in die Nase. Adam begegnete ihm als erster, und bei dem Anblick seiner Augenklappe machte er ein überraschtes Gesicht. Wo er denn gewesen sei, wollte er wissen, und was es mit dem Auge auf sich habe. „Lass uns später darüber reden“ entgegnete Ulrich, „dann werde ich dir meine Geschichte erzählen. Jetzt will ich erst einmal nach meiner Mutter sehen.“ Er wandte sich dem Haus seiner Familie zu. Der Schulze saß auf einer  Bank neben der Tür. Er hatte den Kopf gesenkt wie einer, der nachdenkt. „Guten Tag, Vater“, begrüßte Ulrich ihn. Ruckartig hob der Schulze den Kopf, und obwohl er es selbst gewesen war, der den Boten nach Zehdenick geschickt hatte, starrte er seinen Sohn an wie einen Geist. „Entschuldige“, sagte er dann und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. „Ich war in Gedanken.“ Aufmerksam betrachtete er Ulrich. „Wir haben uns lange nicht gesehen, obwohl du nach deiner Rückkehr von den Soldaten schon eine ganze Weile in



Zehdenick bist. Man hat mir von deiner Anwesenheit berichtet. Auch von deinem Auge.“ Verlegen senkte Ulrich den Kopf. Natürlich hätte er sich melden können, aber er hatte es nicht getan. „Es ging mir schlecht, und außerdem wollte ich euch keinen Kummer bereiten. … Aber sag, wie geht es Mutter?“

 

Der Gesichtsausdruck des Schulzen wechselte von Vorwurf zu Besorgnis. „Schlecht geht es ihr. Wir müssen jederzeit damit rechnen, dass unser Herr im Himmel sie abruft. Sie wird sich freuen, dich zu sehen.“ - „Ach, da ist ja unser Kleiner wieder!“, ertönte in diesem Moment eine Stimme in Ulrichs Rücken. Dietrich, der älteste Bruder, hatte sich von hinten genähert. Als Ulrich sich umdrehte und Dietrich die Augenklappe sah, grinste dieser ihn an. „Oho, ein Auge als Geschenk für unseren König … Wie viele Augen fehlen denn deinem Gegner? Vielleicht beide? Oder vielleicht keins?“ Er drehte den Kopf zur Seite, wo Tilman erschienen war, der andere Bruder. „Sieh an, sieh an, unser kleiner Held ist wieder da. Kaum bei den Soldaten, ist er schon wieder zurück.“ Ungehalten über die beiden schnitt der Schulze ihnen das Wort ab. „Schluss jetzt! Ulrich ist wegen der Mutter da.“ Und an diesen gewandt: „Komm, lass uns zu ihr gehen.“

 

Der Zustand der Mutter stellte sich als weit besser heraus, als Ulrich nach den Worten des Vaters erwartet hatte. Zwar schien es ihr an der Kraft zu mangeln, die sie stets ausgezeichnet hatte, aber da war noch immer viel Leben in ihr. Als er sich zu ihr niederbeugte, hatte er kein schlechtes Gefühl. Auch das Interesse, mit dem sie sich nach seinem Schicksal erkundigte, deutete für ihn eher auf eine vorübergehende Schwäche. Vielleicht hatte der Vater ja nur deshalb den Boten nach Zehdenick gesandt, überlegte Ulrich, weil er ihn wiedersehen wollte und zu stolz war, sich zu diesem Wunsch zu bekennen. Auf jeden Fall gab es viel zu erzählen, genug Gesprächsstoff sogar für mehrere Tage. Nur die Brüder würde er sich vom Hals halten müssen, aber dafür hatte er gewiss die Unterstützung des Vaters. Und wenn er an die Küche

dachte, die ihn hier erwartete, an all die leckeren Dinge, die er während der Armeezeit entbehrt hatte und an denen es auch in seinem gegenwärtigen Leben in Zehdenick mangelte, dann war das in der Tat etwas, worauf er sich freuen konnte. Ein paar schöne Tage lagen vor ihm, da war er sich sicher.

 

Doch dann kam alles ganz anders, und es fing damit an, dass es brannte.