3. Kapitel
(April 1748, Berlin)
Der Tischlermeister Mathias Hültz aus Berlin hatte ein schlechtes Gefühl. Ein sehr schlechtes sogar. Und gleichzeitig wusste er, dass er die Angelegenheit durchstehen musste. Ursula, seine Ehefrau, hatte beim Abschied noch versucht, ihm Mut zuzusprechen. „Es wird schon werden“, hatte sie gesagt - Worte, die ihn beruhigen sollten, aber er wusste genau, dass sie nicht daran glaubte. Die ganze Zeit über hatte sie nicht daran geglaubt, doch weil sie eine folgsame Ehefrau war, hatte sie nicht mit ihm gestritten, sondern seine Entscheidung hingenommen und ihn darin bestärkt, dass die Sache tatsächlich einen guten Ausgang nehmen würde. Die übrigen Tischler in Berlin waren in dieser Hinsicht ganz anders gewesen, die hatten mit ihrer Meinung nicht hinter dem Berg gehalten und ihm unverblümt ihre Meinung gesagt. August Strunz, der Tischlermeister aus der Rosengasse, war am deutlichsten gewesen. „Mit dem Rittmeister“ - gemeint war der Freiherr Johann Heinrich August von Stechow - „kann man keine Geschäfte machen, glaub’s mir!“, hatte er gesagt. „Dieser Kerl ist ein Betrüger. Über den sind die übelsten Nachrichten im Umlauf. Erinnere dich, wie er dem Burkhart aus der Spandauer Straße mitgespielt hat. Wenn du dich mit dem einlässt, kannst du nur verlieren!“ Drastische Worte, aber er hatte sie nicht wahrhaben wollen. Hatte die Warnung seines Zunftkameraden als Neid abgetan, weil der Rittmeister nicht ihm den Auftrag für den Schrank erteilt hatte. In der Tat war das Geschäft mit dem Rittmeister für den Burkhart damals kein Glücksgriff gewesen, doch wenn eine Vereinbarung auf so vielen Missverständnissen beruht, wie das seinerzeit der Fall war, trägt dann nicht auch der Auftragnehmer einen Teil Schuld? Eine unsichere Sache war das gewesen, die Bestellung einer Truhe gewissermaßen im Vorbeigehen, also alles andere als ein richtiger Auftrag. Doch bei ihm selbst war das ganz anders gewesen. Der Rittmeister war in seiner Werkstatt erschienen, und mit großer Ruhe, völlig ohne Hast, hatten sie alle Einzelheiten besprochen: Breite, Höhe und Tiefe des Schranks, als Holz gut abgelagerte Eiche, dazu Intarsien aus unterschiedlichen Hölzern, Zahl und Lage der Schubladen und als Krönung das Wappen der Familie an der geeignetsten Stelle.
Alles hatten sie genauestens festgelegt, und kaum war der Rittmeister aus dem Haus, hatte er mit der Arbeit an dem aufwändigen Stück begonnen. Mehrere Monate waren darüber ins Land gegangen, und pünktlich auf den Tag hatte er dem Rittmeister den Schrank mit den allerbesten Empfehlungen aufs Schloss geschickt. Eigentlich hatte er bei der Übergabe dabei sein wollen, doch eine üble Darmgeschichte hatte ihm zu schaffen gemacht, weshalb zwei Fuhrleute in seinem Auftrag das Möbelstück abgeliefert hatten. „Zählt das Geld sorgfältig nach!“, hatte er ihnen eingeschärft, schließlich ging es bei dem Geschäft um einen ansehnlichen Betrag. Doch die beiden waren ohne Geld zurückgekehrt. Der Rittmeister sei auf einer Reise gewesen, berichteten sie, allerdings werde er in der kommenden Woche zurückerwartet, und dann werde er das Geld mit einem Boten nach Berlin schicken. Weshalb sie den Schrank kurzerhand dagelassen hatten. Und nachdem sie zunächst noch ein wenig herumgedruckst hatten, hatten sie noch hinzugefügt, dass das Schloss eigentlich gar kein richtiges Schloss sei, so wie sie es sich vorgestellt hatten. Eine Bemerkung, die für den Tischler sehr irritierend gewesen war, und die ihn von Tag zu Tag unruhiger hatte werden lassen. „Geh selbst hin“, hatte seine Ursula ihn schließlich gedrängt, „und mach dir ein eigenes Bild!“ Und genau das hatte er dann auch getan.
Weit länger als gewöhnlich zog sich an diesem Tag die Landstraße hin, die Sonne stand hoch, und obwohl das Frühjahr gerade erst begonnen hatte, geriet der Tischler kräftig ins Schwitzen. Irgendwann begegnete ihm ein Junge mit einer Herde Ziegen. Der Kleine grüßte, wie es sich gehörte, doch der Tischler war so sehr in seine Gedanken vertieft, dass er ihn gar nicht bemerkte. Den ganzen Weg über waren ihm immer wieder dieselben Überlegungen durch den Kopf gegangen: Warum hatte der Rittmeister ihm das Geld nicht geschickt? War er mit dem Schrank womöglich nicht zufrieden? Und würde er überhaupt anwesend sein? Mit den Worten „Das wird ein langer Tag, du brauchst eine Stärkung“, hatte Ursula ihm am Morgen ein Stück Brot und etwas
Käse in den Beutel gesteckt, den er über dem Rücken trug, doch nichts davon hatte er bisher angerührt, so sehr hatte die Aufregung sich seiner bemächtigt. Eine Aufregung, die sich noch steigerte, als er sein Ziel in einiger Entfernung vor sich auftauchen sah. Hatte der Rittmeister ihm gegenüber von seinem „Schloss“ gesprochen und ihm dieses in den leuchtendsten Farben ausgemalt, so sah es nun, je näher er kam, immer weniger nach einem Schloss aus, ja noch nicht einmal nach einem Schlösschen, als vielmehr nach einem ganz gewöhnlichen Landsitz eines Adligen der unteren Kategorie, von denen es in der Berliner Umgebung Dutzende gab. „Gar kein richtiges Schloss“, hatten die beiden Fuhrleute zu ihm gesagt, und das zu Recht. Hochgestapelt hatte der Rittmeister, indem er dieses bescheidende Ensemble als ein Schloss beschrieben hatte. Oder deutlicher: Er hatte gelogen.
Hatte das Gebäude zunehmend bescheidener ausgesehen, je näher er ihm gekommen war, so trat nun mit jedem Schritt auch noch eine jahrelange Vernachlässigung immer deutlicher hervor. Die ehemals weiße Fassade war von Wind und Regen verwittert, die Fensterläden hingen schief in den Angeln, und auf dem Dach hatten sich mehrere kleine Bäumchen angesiedelt, die ihre dürren Äste zum Himmel streckten, als wollten sie sich für die jammervolle Erscheinung entschuldigen. Ein paar abgetretene Stufen führten zu einer aus grobem Holz bestehenden Eingangstür hinauf, das glatte Gegenteil jenes prächtigen Entrées am Ende einer von zierlichen Putten gesäumten Freitreppe, die der Rittmeister ihm schwärmerisch ausgemalt hatte. Einen Moment spielte der Tischler mit dem Gedanken, gar nicht erst um Einlass zu bitten, sondern sich umzudrehen und auf den Rückweg zu machen. Aber so sehr er sich auch bewusst war, dass er mit einer
angemessenen Entlohnung für seine Arbeit hier schwerlich rechnen durfte, so wollte er dem Rittmeister dessen Betrug doch nicht so einfach durchgehen lassen. Deshalb klopfte er an die Tür. Wenn er wenigstens seinen Schrank zurücknehmen könnte, ging es ihm durch
den Kopf, und ohne noch zu wissen, wie er das bewerkstelligen sollte, schaute er sich nach einem passenden Gefährt dafür um. In diesem Augenblick wurde die Tür aufgerissen und er sah sich einem Riesen von einem Mann gegenüber, mit einem finsteren Gesicht, kraftstrotzenden Händen und in einer Haltung, die deutlich machte, dass man sich besser nicht mit ihm anlegen sollte. Dennoch unternahm der Tischler einen Versuch. Er wolle den Rittmeister sprechen, erklärte er, dem habe er einen Schrank angefertigt, der noch nicht bezahlt sei, weshalb er nun persönlich erschienen sei, um den Rittmeister an die Bezahlung zu erinnern. „Der ist nicht da“, antwortete sein Gegenüber kurz angebunden und wollte schon die Tür zuschlagen, als der Tischler in einem jähen Aufflackern von Mut einen Fuß dazwischenschob und das Gesagte wiederholte. Worauf der Riese ihn ungläubig musterte, bass erstaunt darüber, dass jemand es wagte, ihm die Stirn zu bieten. Und während der Tischler sich bereits mit einem raschen Schritt rückwärts in Sicherheit zu bringen versuchte, presste der Riese noch ein wütendes „Verschwinde!“ zwischen den Zähnen hervor, und gleich darauf flog die Tür zu. Der Tischler stand wie vom Donner gerührt. Was auch immer es mit dem Rittmeister auf sich hatte, das Geld für den Schrank würde er hier schwerlich bekommen. Ganz wehrlos wollte er sich allerdings nicht zeigen, weshalb er - schon im Fortgehen begriffen - noch durch die geschlossene Tür rief, er werde auf sein Geld nicht verzichten und dass der Rittmeister noch von ihm hören werde. Ein dröhnendes Gelächter war die Antwort.
Der Rückweg nach Berlin war für den Tischler ein einziges Martyrium. Einmal hätte er die Gelegenheit gehabt, von einem Kaufmannszug aus Leipzig ein Stück weit mitgenommen zu werden, aber er schlug das Angebot aus. Er wollte allein sein. Wollte nachdenken über das, was sich gerade ereignet hatte und wie es jetzt weitergehen sollte. Als er an einem Bach vorbeikam, setzte er sich an den Rand und starrte ins Wasser, als erhoffte er sich von Fischen und Krebsen einen Rat.
Irgendwann fiel ihm ein, dass man ihn nach Anbruch der Dunkelheit nicht mehr in die Stadt einlassen würde, also stand er auf und setzte seinen Weg fort. Als letzter an diesem Tag erreichte er Berlin. Nachdem er in der Stadt war, lief er schwermütig weiter, setzte träge ein Bein vor das andere, doch unerbittlich kam er seinem Haus näher. Gerade schlug die Uhr vom Rathaus die sechste Stunde, als er über die Schwelle trat. Die Frage „Wo warst du so lange?“, lag seiner Ehefrau schon auf den Lippen, doch als sie ihn sah, bleich und gebeugt, da wusste sie, dass alles schief gegangen war und schwieg. Auch die Töchter zogen sich zurück und wagten es nicht, das Wort an den Vater zu richten. Die Dunkelheit war längst angebrochen, Ursula hatte eine Kerze entzündet, als der Tischler endlich den Mund aufmachte. Leise und immer wieder stockend berichtete er von dem Erlebten, wahrheitsgetreu und mit einer Stimme wie aus einem Grab. „Wir werden das Geld nicht bekommen“, endete er, worauf sie erschrak. Auch sie war skeptisch gewesen, als er das Geschäft mit dem Rittmeister abgeschlossen hatte, aber um des familiären Friedens willen hatte sie geschwiegen. Und jetzt konnte sie natürlich erst recht nichts sagen. Der restliche Abend verging mit Überlegungen, ob es vielleicht doch noch eine Möglichkeit gäbe, den Rittmeister zum Zahlen zu bewegen, wen man um Hilfe ersuchen könnte oder ob ein Gang zum Richter etwas nutzen würde, doch alle Überlegungen endeten in einer Sackgasse. Selbst wenn der Richter ihm das Geld zuerkennen sollte, war sich der Tischler sicher, würde der Rittmeister andere Trümpfe ziehen - dass der Schrank nicht seinen Wünschen entspräche, dass der Tischler irgendwelche Vereinbarungen nicht eingehalten habe oder ähnliches, und schon würde ein Wort gegen das andere stehen. Und gegen einen Rittmeister kam ein Tischler nicht an. „Aber wenn wir das Geld nicht bekommen, wovon sollen wir leben?“, sprach die Ehefrau aus, worüber ihr Mann schon auf dem Rückweg gegrübelt hatte. „Während du an dem Schrank gearbeitet hast, hattest du keine anderen Aufträge, und bis du einen neuen abgearbeitet hast …“ Auch Unterstützung von den anderen Familienmitgliedern war kaum zu erwarten. Die älteste Tochter hatte
einen Mann geheiratet, der selbst in Schwierigkeiten steckte, die beiden jüngsten Töchter waren noch klein, blieb also nur die 17jährige Elsa, die im Haus eines reichen Berliner Bürgers eine Anstellung als Magd gefunden hatte. Lohn bekam sie dort nicht, nur Essen und ein Bett. Aber wenn sie ihren Herrn nun um ein wenig Unterstützung für ihre Familie bitten würde? überlegte der Tischler. Doch seine Ehefrau schüttelte entschieden den Kopf. Nein, wie immer man die Sache auch drehen und wenden mochte - im Hause des Tischlermeisters Mathias Hültz sah es nicht gut aus.
Die nächsten Tage gehörten zu den düstersten, die der Tischler jemals erlebt hatte. Natürlich sprach sich sein Missgeschick schnell herum, und weil Menschen gern Recht behalten und es viele gibt, die sich nur allzu gern am Leid eines anderen ergötzen, hielten diejenigen, die vor einem Geschäft mit dem Rittmeister gewarnt hatten, sich nun mit entsprechenden Äußerungen auch nicht zurück. Die Folge war, dass die Tischlersfamilie sich immer weiter zurückzog wie in ein Schneckenhaus. Musste die Ehefrau einkaufen gehen, so tat sie das zu einer Zeit, zu der nur wenige Leute auf dem Markt waren, und ihr Ehemann setzte keinen Fuß mehr aus dem Haus. Auch Kunden erschienen nicht mehr bei ihm, so als leide er an einer ansteckenden Krankheit. In dieser bejammernswerten Situation befanden sich die Tischlersleute, und beide wussten nicht, wie es weitergehen sollte. Doch ihr Unglück währte nur eine kurze Zeit, denn bereits zwei Wochen später kam der Tag, der ihrem Problem ein Ende machen sollte - und der dabei zugleich ein neues Problem schuf.
Es war an einem Donnerstagabend. Die Tischlersfrau hatte ihre häuslichen Arbeiten verrichtet und ihrem Ehemann danach eine dünne Suppe gekocht, dieser hatte wohl zum hundertsten Mal seine Werkstatt aufgeräumt und sein Werkzeug erneut von zwanzig Jahren erfolgreicher Arbeit gesäubert, als die Ehefrau wie oft zu dieser Tageszeit zu einem Kirchenbesuch aufbrach. Obwohl Sankt Marien das nächstgelegene
Gotteshaus war und sie auch zu dessen Sprengel gehörten, suchte sie wie seit dem Schicksalsschlag üblich Sankt Petri in Cölln auf. Beherrscht wurde sie dabei von derselben Hoffnung wie beim Gang auf den Markt, dass sie niemanden treffen würde, den sie kannte und dass sie keiner auf ihre Sorgen ansprach, sei es aus Mitleid oder um seine Neugier zu befriedigen. Eine Hoffnung, die sich auch diesmal erfüllte. Der abendliche Gottesdienst war beendet, die Besucher hatten die Kirche verlassen, und letztes Abendlicht brach sich in den farbigen Fenstern. Bevor sie ebenfalls ging, wollte die Tischlerin noch ein Gebet sprechen, und weil es ihrem Wunsch nach Zurückgezogenheit am besten entsprach, wählte sie als Ort dafür einen Platz, der von allen Plätzen im Kirchenraum am wenigstens zu sehen war. Nachdem sie zunächst einen Moment innegehalten hatte, neigte sie den Kopf und begann jenes Gebet, dessen Wortlaut aufgrund der vielfachen Wiederholung in den vergangenen Tagen schon eine feste Form gefunden hatte. Und wie gewöhnlich beendete sie ihre Zwiesprache mit Gott mit einem Vaterunser, als sie durch feste Schritte auf dem steinernen Kirchenboden unterbrochen wurde. Gleich darauf sah sie, wie eine Person auf die Sakristei zuhielt, während ihr von dort eine andere entgegenkam. Einzelheiten konnte sie nicht erkennen, da das von draußen hereinfallende Licht sie blendete. Nur dass die beiden miteinander sprachen, sah sie. Doch fand dieses Gespräch schon kurz darauf wieder ein Ende, und die eine Person strebte dem Ausgang zu, während die andere sich in die Sakristei zurückzog. Mit einem dumpfen Geräusch fielen zwei Türen ins Schloss, und erneut kehrte abendliche Stille ein.
Die Tischlersfrau beschloss, auf die letzten Sätze des Vaterunsers zu verzichten und beendete das Gebet mit einem „Amen“. Als sie sich dem Ausgang zuwandte, fiel ihr Blick auf die Stelle, an der die beiden miteinander geprochen hatten. Etwas Glänzendes lag dort am Boden, und da sie neugierig war, lenkte sie ihre Schritte dorthin. Wäre da nicht
das letzte Tageslicht gewesen und hätte jenes Glänzen bewirkt, so hätte sie den Gegenstand gar nicht bemerkt. So aber kniete sie sich nieder, und dabei entdeckte sie einen Beutel, der mit silbernen Plättchen verziert war. Sollte er nicht schon länger an dieser Stelle gelegen haben, so musste ihn eine der beiden Personen verloren haben. Aber wie auch immer - irgendwie kam es ihr vor, als spräche der Beutel zu ihr: „Nun los, heb mich auf und sieh nach, was sich in meinem Inneren befindet!“ Die Tischlersfrau schaute sich um. Sie war allein in der Kirche, deshalb tat sie, wozu der Beutel sie aufforderte. Er war dicker und schwerer, als er den Anschein gehabt hatte. Sie vergewisserte sich ein weiteres Mal, dass niemand sie sah, und zog dann die Kordel auf, mit der er verschlossen war. Als sie den Inhalt erkannte, stockte ihr der Atem, denn zahlreiche Münzen befanden sich in dem Beutel. Sie schob die Hand hinein und ließ die Münzen durch ihre Finger gleiten. Was für ein köstliches Gefühl! Viel mehr Geld, als sie jemals gesehen hatte. Ein Vermögen musste das sein!
Doch schon im nächsten Moment fuhr sie erschrocken zusammen, denn auf einmal sprach abermals eine Stimme zu ihr, allerdings eine andere: die Stimme des göttlichen Gebots „Du sollst nicht stehlen!“ und des Rechts, und diese Stimme sagte zu ihr: „Geh in die Sakristei und gib den Beutel dort ab.“ Denn entweder gehörte er demjenigen, der von dort gekommen war, also vermutlich dem Priester, oder er stammte von dessen Besucher, der zweifellos in Kürze zurückkehren würde, sobald er das Verlorene vermisste. Doch dann meldete sich noch eine weitere Stimme, und die sagte etwas, worüber sie zunächst kräftig erschrak: „Behalte den Beutel! Du hast ihn gefunden, und das ist kein Zufall. Bedenke, wie oft du in den letzten Tagen um Hilfe in der Not gebetet hast, die dich und deinen Ehemann getroffen hat. Einen Ausweg hast du gesucht, hier hast du einen. Deine Gebete wurden erhört. Du bist stark im Glauben, also nimm, was du gefunden hast.“ Und während sie noch zögerte und ihr Herz so heftig schlug, als wollte es zerspringen, da
hörte sie noch eine Stimme, und die beendete ihre Zweifel: „Nun nimm doch das Geld!“, drängte die Stimme ihres Ehemanns. „Und beeil dich, bevor noch ein anderer kommt und es dir wegnimmt!“ Und weil sie gelernt hatte, ihm zu gehorchen - hieß es doch „Die Frauen seien ihren Ehemännern untertan!“ -, deshalb tat sie es nun. Mit zitternder Hand schob sie den Beutel unter ihre Kleider. Und dabei hatte sie das Gefühl, dass sie kein Unrecht beging. Nicht um Reichtum ging es ihr, nur dass ihre Sorgen ein Ende hätten, das wollte sie. Dass sie wieder so leben konnte wie bisher, sie und ihr Ehemann, bevor er um den gerechten Lohn für seine Arbeit betrogen worden war.
Tief atmete die Tischlersfrau durch, drehte sich dann entschlossen um und strebte mit schnellen Schritten dem Ausgang zu. Gleich darauf stand sie draußen. Den Mann, der kurz zuvor in die Kirche gekommen war, hatte sie nicht bemerkt. Er aber hatte alles beobachtet. Und nicht nur das - er hatte sie auch erkannt. Nachdenklich verharrte er noch einen Augenblick, als sie die Kirche bereits verlassen hatte. Dann wandte er sich dem Altar zu und sprach ein Gebet.