30. Kapitel

 

(Juli 1757, Zehdenick) 

 

 

Unehrenhaft aus der preußischen Armee entlassene Soldaten waren Lebewesen, die aus Sicht vieler Zeitgenossen in der Rangordnung nur wenig über den Haustieren standen. Ja, mancher ordnete sie sogar noch darunter ein, konnte man Kühe doch melken, Pferde einen Wagen ziehen lassen, und Katzen fingen Mäuse - alles nützliche Beiträge für das Funktionieren der menschlichen Gesellschaft, an die die Beiträge entlassener Soldaten in keiner Weise heranreichten. Waren diese in ihrem früheren Leben einem Beruf nachgegangen, so hatte das Soldatsein sie diesem entfremdet. Hatten sie keinen Beruf gehabt, so war es für das Erlernen eines solchen nach der Entlassung aus dem Militär zu spät. Nur noch einfache Tätigkeiten kamen für sie in Frage, etwa als Packer im Kontor eines Kaufmanns, als Lastenträger im Hafen oder als Tagelöhner auf einer Baustelle, um Gruben auszuheben oder Steine zu schleppen. Nur - die meisten Kaufleute, Schiffseigner und Bauherrn hätten diese Arbeiten lieber selbst gemacht, als einen entlassenen Soldaten in den Dienst zu nehmen. Soldaten waren Männer, die von hartherzigen Vorgesetzten geschunden worden waren, denen man beigebracht hatte, ohne Skrupel Menschen zu töten, ja selbst Frauen und Kinder abzuschlachten, wenn der Befehl an sie erging, die zu plündern gelernt hatten und zu brandschatzen, und die sich die oftmals sehr lange Zeit zwischen zwei Kriegen mit Würfeln, Saufen und Herumhuren in schäbigen Spelunken vertrieben hatten. Die übrige Zeit hatten ihre Vorgesetzten sie auf Exerzierplätzen geschliffen und zu blind gehorchenden Angehörigen einer Armee von bloßen Befehlsempfängern gemacht, für die selbst noch das abwegigste Verlangen eines Ranghöheren die reinste Offenbarung war. Wurden diese Männer aus dem Militärdienst entlassen, so waren sie Fremdkörper in der Gesellschaft, auf einer Stufe mit Landstreichern, Dieben und Vagabunden, die jeder anständige Bürger am liebsten von hinten sah.

 

Rudolf war solch ein aus dem Militärdienst unehrenhaft entlassener Soldat. Nicht eine Verwundung wie bei Ulrich war der Grund für sein 

Ausscheiden gewesen, bei ihm war es die schimpfliche Bestrafung einer schimpflichen Tat, die militärische Disziplin unmöglich dulden konnte. Und so hatte man ihn denn auch bald nach dem Spießrutenlaufen aus der Armee entlassen, nachdem der Feldscher ihn halbwegs zusammengeflickt hatte. Danach war Rudolf ziellos herumgezogen, hatte mal hier, mal dort eine Zeitlang gelebt und dabei oft genug am Rand des Verhungerns vegetiert. Schließlich war er zu der Erkenntnis gelangt, dass er sich - da er das Ende seiner möglichen Lebenserwartung noch längst nicht erreicht hatte - auf irgendeine Weise wieder aus dem Sumpf ziehen musste. Was er dann auch getan hatte, indem er sich von einem Dieb zu einem Dieb hatte ausbilden lassen. Warum der Mann ihm seine Fertigkeiten beigebracht hatte, wusste Rudolf nicht. Er sehe seinem verstorbenen Sohn ähnlich, hatte der Mann zur Begründung gesagt, aber vielleicht war es nur die Gesellschaft eines anderen Menschen, die er gesucht hatte. Doch wie auch immer - nachdem Rudolf einige Monate lang ein gelehrsamer Schüler gewesen war, hatte er es zu einiger Könnerschaft in seinem neuen Metier gebracht, und das gerade rechtzeitig, denn eines Tages war sein Lehrmeister auf einmal weg. Eine dumme Unachtsamkeit bei einem Perückenmacher in Neuruppin hatte ihn an den Galgen gebracht. Ein Schicksal, das Rudolf als seinem Mittäter nur deshalb erspart geblieben war, weil er auf der Flucht vor den Verfolgern über die besseren Ortskenntnisse verfügt hatte. Seit diesem Tag war er auf sich allein gestellt, und das, obwohl es noch vieles gab, was er hätte lernen können.

 

Der Eintritt in eine fremde Stadt gehörte nicht zu diesen versäumten Lektionen. Dass die Ratsherren keine Diebe in ihren Mauern haben wollten, verstand sich von selbst, aber auch unehrenhaft entlassene Soldaten waren nicht gern gesehen. Ja, es gab sogar Städte, die lieber den Teufel eingelassen hätten, als einen solchen Soldaten. Gleich zwei Gründe also für Rudolf, möglichst unbemerkt in eine Stadt zu gelangen. In Zehdenick allerdings musste er sich an diesem Tag nicht sonderlich 



anstrengen: Sieben mit Kisten und Fässern voll beladene Wagen eines Kaufmannszugs aus Stettin, von 14 stämmigen Pferden gezogen, waren eine echte Herausforderung für die beiden Stadtwächter, weshalb es für die übrigen Besucher Zehdenicks, und darunter eben auch für Rudolf, eine Leichtes war, unbemerkt durch das Tor zu schlüpfen. Er bog in die Straße zum Rathaus ein, erkundigte sich bei einer Bettlerin nach dem Weg zum Mühlendamm und wollte sich gerade einem Gässchen zwischen zwei Häusern zuwenden, als er einen Steinwurf entfernt einen Mann entdeckte, der ihm bekannt vorkam. Neugierig blieb er stehen. Der Mann war groß und schlank, trug ärmliche Kleidung, und als er sich ein wenig zur Seite drehte, so dass sein Gesicht deutlich zu erkennen war, durchzuckte es Rudolf wie ein Blitz. Ulrich! Ulrich Schultze! Der Mann, der ihn mit seiner widerwärtigen Lüge die eigene Schuld hatte büßen lassen! Dem er das entsetzliche Trommelfeuer von Stockschlägen zu verdanken hatte, dessen Nachwirkungen ihn noch immer peinigten! Und der für seine Entlassung aus der Armee verantwortlich war! In einem Ansturm von Zorn wollte Rudolf sich schon auf ihn stürzen und ihn augenblicklich zur Rechenschaft ziehen, doch hielt er im letzten Moment inne und zwang sich zur Beherrschung. Würde er dem Verhassten auf der Stelle Gewalt antun, musste er mit Verhaftung und strenger Bestrafung rechnen, was er nicht wollte. Besser war es, die Sache mit Geduld anzugehen. Lange Zeit hatte er nicht gewusst, wo Ulrich zu finden war - nun wusste er es, also brauchte er nichts zu überstürzen. Rudolf suchte Deckung hinter einer Mauer und wartete. Ulrich lief einen schmalen Weg bis zum Ende, blieb kurz stehen und hielt Ausschau nach etwas, was Rudolf nicht sehen konnte, und kehrte anschließend zum Ausgangspunkt zurück. Mit Befriedigung nahm Rudolf die Augenklappe wahr, die Ulrich trug. Vielleicht eine Verwundung aus einem Gefecht zu einem Zeitpunkt, als sie ihn selbst bereits aus der Armee ausgestoßen hatten. Eine Verwundung mit der Folge, dass Ulrich ebenfalls nicht mehr beim Militär war, ein Umstand, für den auch seine gewöhnliche Kleidung sprach. Wie ein Raubtier, das sich auf die Spur seiner Beute setzt, beschloss Rudolf, dem einstigen Kameraden zu folgen. Zwei Dragoner 

 

mit blauem Rock, gelben Hosen und einem Dreispitz auf dem Kopf näherten sich ihm, und instinktiv wich er ihnen aus. Auch wenn seine Armeezeit schon viele Monate zurücklag, so stieg die Erinnerung an das Durchlittene bei solchen Begegnungen doch immer wieder in ihm hoch.„Noch zwei Tage in Zehdenick“, hörte er den einen sagen, „dann geht’s in den Krieg. Seine Majestät kann unsere Hilfe gut brauchen, seit die Österreicher ihn aus Böhmen vertrieben haben.“ Der andere zuckte die Schultern. „Vielleicht schicken sie uns ja auch nach Ostpreußen gegen die Russen oder an den Rhein gegen die Franzosen …“ - „… oder gegen die Schweden nach Pommern“, ergänzte der andere und lachte. „Viel Feind, viel Ehr! Dafür dürfen wir unserem König dankbar sein. Oder siehst du das anders, mein lieber Simon?“

 

Simon! Obgleich es sich um einen anderen Mann handelte, versetzte der Namen Rudolf einen Stich. Ulrichs schändliche Lüge wäre ohne diesen damaligen Simon nicht möglich gewesen, weshalb er auch den noch zur Rechenschaft ziehen würde, sofern er ihn fand. Bilder bauten sich in seinem Kopf auf, gewalttätige Bilder voller Schmerzen und Blut, und einen Moment lang badete Rudolf in diesem Gefühl. Doch dann rief er sich zur Vernunft. Zunächst war Ulrich an der Reihe. Er musste einen Plan machen, wie er gegen ihn vorgehen wollte, und dafür musste er als erstes wissen, wo der Kerl wohnte. Rudolf hatte ihn die ganze Zeit im Auge behalten, und als Ulrich in die Fischergasse am Stadtgraben einbog, wo die ärmlichen Häuser standen, windschief und einige von ihnen in einem Zustand, als würden sie das nächste Jahr nicht mehr erleben, da beschleunigte Rudolf seine Schritte, um den Verfolgten nicht zu verlieren. Gerade noch rechtzeitig, denn gleich darauf war Ulrich in einem dieser Häuser verschwunden. Entschlossen ballte Rudolf die Hand zur Faust. Wart’s nur ab, Ulrich Schultze! zischte er. Wart’s nur ab!

 

Einen Tag später hatte Rudolf einen Plan!