32. Kapitel

 

(Juli 1757, nahe Zehdenick und in einem kleinen Ort eine knappe Tagesreise entfernt) 

 

 

Ulrich konnte schwimmen, eine Fähigkeit, die er mit wenigen Zeitgenossen teilte. Den meisten war Wasser suspekt, sei es, weil es nach verbreiteter Ansicht krank machen konnte, oder sei es, weil es von allerlei unheimlichen Wesen belebt war, die zu schaden vermochten. Weshalb die meisten Menschen Gewässer mieden, sowohl Bäche und Flüsse als auch Teiche und Seen und erst recht das Meer. Letzteres hatte Ulrich noch nicht kennengelernt. Seine Gewässer waren kleiner, und seit er in Zehdenick lebte, war es vor allem die Havel. Ein Fluss, der träge zwischen Wiesen und Wäldern dahinfloss und sich für seinen Weg von der Quelle bis zur Mündung jede Menge Zeit ließ. Das Schwimmen hatte ihm sein Vater im Döllnfließ beigebracht. So viel Platz wie in einem See hatte es dort zwar nicht gegeben, aber für ein paar Stöße in die eine oder andere Richtung hatte es gereicht. Ohnehin war es Ulrich nie darum gegangen, schwimmend einen Fluss zu überqueren oder von der einen Seite eines Sees die andere zu erreichen. Was ihn reizte, war das berauschende Gefühl, wenn das Wasser kühl und frisch seinen Körper umflutete. Und vielleicht war es auch die Vorstellung, dass durch das Schwimmen im Wasser Schuld von ihm abgewaschen wurde. Gerade so, wie in der Taufe das Eintauchen in Wasser oder das Besprengen damit von Sünden befreit.

 

Längst hatte Ulrich eine Bucht an der Havel aufgetan, an der er allein war, wo allenfalls auf der Landstraße jemand vorbei kam, aber auch das nur selten. Bäume und Büsche umstanden die Bucht, Sand bildete das Ufer. Es war eine Stelle oberhalb von Zehdenick, wo die Havel noch sauber war. Wo der Fluss die Stadt hinter sich ließ, führte er Verschmutzungen aller Art mit sich, von den Abfällen vom Schlachthof bis zu der stinkenden Brühe der Gerber und den vielfarbigen Hinterlassenschaften der Färber. „Meine kleine Bucht“, wie er sie für sich nannte, war verglichen damit ein Ort reinsten Genusses mit so klarem und erquickendem Wasser, wie es in seiner Fantasie die Flüsse im Paradies einst besessen hatten und in denen Adam und Eva

geschwommen waren, bevor der Erzengel Michael sie mit dem Schwert davongejagt hatte.

 

Je mehr die Fluten seinen erhitzten Körper kühlten, um so besser flossen die Gedanken in seinem Kopf. In der stickigen Wärme seiner winzigen Kammer wollte ihm das Denken oft nicht gelingen, zerfaserten die Bilder mitunter bis zur Unkenntlichkeit. Hier draußen dagegen sah er alles klar vor sich. Auch Elsa. „Ich will mit dir reden“, hatte sie ihm bei dem Brand in ihrem Haus hastig zugeraunt. Doch bis zu diesem Tag hatte sie noch nicht an seine Tür geklopft. Und dabei hoffte er, dass sie käme. Zwar gehörte Elsa in ihr Dorf, sie hatte Jakob und das Kind. Aber dennoch erwartete er ungeduldig ihren Besuch.

 

Es waren Gedanken wie diese, die Ulrich selbst beim Schwimmen noch beschäftigten, und die dazu führten, dass er alles andere um sich herum nicht mehr wahrnahm. So wie diesmal den Kahn, der unweit von ihm durch die Fluten glitt, den Kaufmannswagen auf der Landstraße und die beiden Handwerksburschen, die den Wagen angeregt miteinander schwatzend begleiteten. Auch den Mann bemerkte er nicht, der sich durch die Büsche am Ufer anschlich, sorgfältig darauf bedacht, jedes Geräusch zu vermeiden. Hätte er ihn erkannt, es hätte ihn wie ein Blitz durchschossen und er wäre in Windeseile aus dem Wasser gewesen. So aber blieb er arglos, überließ sich weiter dem Fließen seiner Gedanken und ahnte nicht im geringsten, dass gerade in diesem Augenblick jener andere sich anschickte, einen Plan in die Tat umzusetzen. 

 

Einen tödlichen Plan.

 

Nur wenige Tage hatte Rudolf gebraucht, um ihn in allen Einzelheiten auszuarbeiten, und die ganze Zeit über hatte er ein Höchstmaß an Befriedigung dabei empfunden. Endlich hatte er eine Möglichkeit gefunden, sich an Ulrich zu rächen! Endlich würde er ihm seine



hundsgemeine Niedertracht heimzahlen können! Milde brauchte er nicht zu üben, hatte er sich immer wieder gesagt und sich daran erinnert, wie seine Kameraden ihm mit ihren Stöcken fast das Leben aus dem Leib  geprügelt hatten. Auge um Auge und Zahn um Zahn hieß das uralte Spiel, und diesmal würde es Ulrich treffen. Der Sturz eines Dreckskerls in den Abgrund.

 

Enten flogen auf, als Rudolf ihnen näher kam, und sofort warf er sich flach auf den Boden. Doch Ulrich hatte ihn nicht bemerkt. Vorsichtig schlich er weiter zu den Kleidern, die Ulrich am Rand des Gebüschs abgelegt hatte. Ob er das Medaillon bei sich hatte, konnte Rudolf nicht wissen, der einzige Schwachpunkt in seinem Plan, doch war er fest davon überzeugt. Noch gut erinnerte er sich an dieses Medaillon mit dem Bild von Ulrichs verstorbener Zwillingsschwester. Sie war ihm so wichtig gewesen, dass er das Medaillon in der Armee ständig bei sich gehabt hatte. Und war er von seinen Kameraden darauf angesprochen worden, so hatte er es stets freimütig gezeigt, so dass viele es kannten. Erleichterung durchflutete Rudolf, als er das Gesuchte in der Hand hielt, und sofort begann er, sich durch die Büsche zurückzuschieben. Ulrich hatte von dem Geschehen nichts bemerkt und schwamm noch immer so ausdauernd, als wollte er gar nicht mehr damit aufhören. „Jetzt bist du fällig!“, stieß Rudolf leise zwischen den Zähnen hervor, und bestens gelaunt trat er den Rückweg nach Zehdenick an.

 

 

Zwei Tage später stand Rudolf eine knappe Tagesreise entfernt gegenüber einer Kirche unter einem von Buschwerk umgebenem Baum. Hatte am Morgen noch die Sonne geschienen und einen freundlichen Tag in Aussicht gestellt, so hatte sich das Wetter inzwischen geändert. Im Osten waren dunkle Wolken aufgezogen und hatten sich zu einer schwarzen Wand aufgetürmt, begleitet von dumpfem Donnerrollen in der Ferne. Als die ersten Blitze über den Himmel gezuckt hatten, waren die Menschen in ihre Häuser geflüchtet, und seither lag der kleine Ort wie ausgestorben da, nur ein paar Hunde 

strichen noch durch die Gassen. In früheren Jahren war Rudolf häufig in diesem Ort gewesen, auch die Kirche kannte er gut. Sie war alt. Für den unteren Teil ihres Turms hatte man Feldsteine verwendet, darüber erhob sich ein Aufbau aus rotbraunen Ziegeln und noch weiter oben ein spitzes, mit Holzschindeln gedecktes Dach mit einem Kreuz. An den Turm schloss sich das Kirchenschiff an, das weit mehr als tausend Besuchern hätte Platz bieten können. Viel zu viel für diese Gegend, aber vielleicht hatten die Erbauer der Kirche die Hoffnung gehegt, ihr kleiner Ort werde kräftig wachsen. Vielleicht hatte sich aber auch ein reicher Geldgeber mit diesem überdimensionierten Bau einen Platz im Himmel sichern wollen.

 

Die Tür der Kirche wurde geöffnet, und ein Pfarrer trat heraus. Auch ihn kannte Rudolf aus früheren Jahren. Der Mann wirkte krank und gebrechlich, wie er da mit mühsamen Schritten über den Platz schlurfte und in einem der nächststehenden Häuser verschwand. Womöglich wartete bereits eine Haushälterin mit dem Essen auf ihn, ging es Rudolf durch den Kopf, und danach würde er sich gewiss zu einem Schläfchen hinlegen, so wie Menschen seines Alters es oft taten. Hatte Rudolf ursprünglich nur die Lage erkunden und danach auf die Nacht warten wollen, um seinen Plan umzusetzen, so entschloss er sich nun, diesen sofort in Angriff zu nehmen. Das aufziehende Gewitter würde die Menschen in ihren Häusern halten, und wenn er nur vorsichtig genug zu Werke ging, würde sein Vorhaben gelingen. Die kleine Seitentür zur Kirche lag im Schatten eines Baums, daneben wuchs dichtes Gebüsch, so dass niemand ihn beim Hineingehen sehen würde. Vorsichtig und immer wieder um sich spähend arbeitete sich Rudolf zu der Tür vor. Erneut zerrissen Blitze den Himmel, und gleich darauf setzte Regen ein. Als er auf die Klinke drückte, stellte er fest, dass die Tür verschlossen war, allerdings mit einem Schloss, dass selbst für einen Anfänger unter den Einbrechern eine Kleinigkeit gewesen wäre. Kaum hatte er einen mitgeführten Draht in das Schloss geschoben und ihn ein paarmal hin und her bewegt, ging die Tür auch schon auf und er stand 



im Inneren der Kirche. Noch gut konnte er sich an alle Einzelheiten erinnern. Die Bilder von Stationen des Kreuzwegs hingen nach wie vor an ihren Plätzen, das Kreuz auf dem Altar war dasselbe wie früher und ebenso der steinerne Marcus mit jenem merkwürdigen Löwen, der ihm immer so vorgekommen war, als sei er schwanger. Rudolf huschte durch das Seitenschiff nach vorn, wo sich dicht hinter dem Altar eine Pforte zur Sakristei befand. Sie stand offen, vielleicht weil mit Kirchendieben niemand rechnete oder weil der Pfarrer einfach nur vergessen hatte, sie zu schließen. Fast schon empfand Rudolf ein wenig Enttäuschung - sollte sein Vorhaben nicht mehr sein als ein einfacher Spaziergang, wozu selbst der allerdümmste Dieb in der Lage gewesen wäre?

 

In der Sakristei empfing Rudolf der muffige Geruch eines lange Zeit ungelüfteten Raums. Er schaute sich um. An der gegenüberliegenden Wand hingen die Gewänder des Pfarrers, in einem offenstehenden Schrank lagerten Leuchter und Kerzen, Kelche und Hostienteller für das Abendmahl sowie mehrere Kruzifixe. Auch ein Regal für Kirchenbücher fehlte nicht. Eine dicke Staubschicht auf ihnen verriet, dass sie lange nicht gebraucht worden waren. Besonders kostbar schienen all diese Dinge nicht zu sein. Sollte tatsächlich ein einstiger Wohltäter den überdimensionierten Kirchenbau möglich gemacht haben, so war ihm danach offenbar das Geld für die Ausstattung  ausgegangen oder seine Großzügigkeit hatten keinen Nachahmer gefunden. Ganz ohne Wert waren die Gegenstände allerdings auch nicht, und außerdem - und das war das Entscheidende - handelte es sich um Gegenstände in einer Kirche, und wie jeder wusste, galten Diebstähle aus einer Kirche als die schlimmsten. Wer hier zulangte, der bestahl Gott selbst, weshalb es für ein solches Verbrechen nur eine einzige Strafe geben konnte: den Tod. Schnell hatte Rudolf einige Dinge zusammengerafft, die ihm von allen noch als die wertvollsten erschienen, und in einen mitgeführten Beutel gesteckt. Als er fertig war, 

ließ er Ulrichs Medaillon auf den Boden fallen - an einer Stelle, an der es auf keinen Fall übersehen werden konnte, wo aber gleichzeitig glaubhaft erschien, dass der Dieb es verloren hatte. Einen Augenblick lang verharrte Rudolf danach noch am Ausgang der Sakristei und genoss seinen Triumph. „Das wird dir das Genick brechen, du Bastard!“, frohlockte er und grinste. Dann warf er sich den Beutel über die Schulter, und nachdem er sich vergewissert hatte, dass niemand ihn draußen beobachtete, verließ er die Kirche.