34. Kapitel

 

(Juli 1757; Zehdenick) 

 

 

Sie kamen zwei Tage später, als die Kirchenglocken gerade den neuen Morgen einläuteten. Grob hämmerten sie an seine Tür, und als er öffnete, nachdem er noch schnell seine Augenklappe übergestreift hatte, wurde er von zwei kräftigen Kerlen an den Armen gepackt, während ein dritter sich drohend vor ihm aufbaute. „Wo sind die Sachen?“, herrschte er Ulrich an. „Welche … Sachen?“, stammelte der, noch schlaftrunken und ohne die geringste Ahnung, was man von ihm wollte. Sein Gegenüber näherte sich ihm bis auf eine Handbreit. Sein fauliger Atem drang ihm in die Nase, und das raubtierhafte Funkeln in den Augen des anderen machte ihm Angst. Schon rechnete er mit Gewalt, stattdessen wandte sich der Mann abrupt von ihm ab, und mit den Worten „Wie du willst!“, begann er, die Kammer zu durchsuchen. Er warf den Tisch um, schob Schemel und Bett beiseite und unterzog jedes Dielenbrett einer Prüfung, indem er es anzuheben versuchte, jedoch vergeblich, denn alle waren fest. Als Nächstes riss er den Strohsack auseinander, der noch warm war von Ulrichs Körper, und verstreute den Inhalt, er wühlte in der wenigen Kleidung, die Ulrich besaß, doch nirgends wurde er fündig. Mehr zu durchsuchen war nicht möglich, da es in der Kammer nicht mehr gab, was für den Mann hieß, dass das Gesuchte sich an einem anderen Ort befand. „Wenn du denkst“, polterte er, „dass du schlauer bist als wir, dann hast du dich getäuscht! Wir finden die Sachen!“ Rote Flecken hatten sich auf seinem Gesicht breit gemacht, und Speichel lief ihm über das Kinn. Derweil bogen die beiden anderen Kerle Ulrich die Arme so kräftig nach hinten, dass er vor Schmerzen stöhnte. Vor der Tür hatten sich inzwischen die übrigen Bewohner des Hauses versammelt. Zwei kleine Mädchen klammerten sich ängstlich an ihre Mutter, eines von ihnen weinte. Als die Männer Ulrich aus der Kammer zerrten, machte er - nachdem er bis dahin wie gelähmt gewesen war - den Mund auf. Er verlange eine Erklärung, stieß er erregt hervor, wer sie überhaupt seien, wie sie sich erlauben könnten, ihn so zu behandelen und dass er sich an höherer Stelle über sie beschweren werde. Aber das beeindruckte die Männer nicht. Lediglich ein barsches „Maul halten!“ erhielt Ulrich zur Antwort. Dann banden 

sie ihm die Hände zusammen, und unter Beschimpfungen und mit gelegentlichen Tritten trieben sie ihn aus dem Haus und durch die Gasse, bis sie ein paar Straßen weiter jenes graue, bedrohlich wirkende Gebäude erreichten, um das er stets einen Bogen gemacht hatte, da sich in ihm das städtische Gefängnis befand. Eine Tür wurde aufgesperrt und zwei andere Männer übernahmen ihn. Ebenfalls mit groben Griffen stießen sie ihn über ausgetretene Stufen abwärts und führten ihn durch einen lichtlosen Gang. Gleich darauf fand er sich in einem gruftartigen Raum wieder, und eine eisenbeschlagene Tür fiel hinter ihm ins Schloss.

 

Eine Weile stand Ulrich wie betäubt da, unfähig sich zu rühren. Er hatte nicht das Geringste verstanden, und auch jetzt noch hatte er keinerlei Ahnung, worum es ging. Irgendwann löste er sich aus seiner Starre und schaute sich um. Der Raum maß nicht mehr als vier Schritte im Geviert, die Wände bestanden aus Feldsteinen, durch eine winzige Öffnung in der Decke drang ein wenig Licht herein. In einer Ecke lag eine Schütte Stroh, offensichtlich feucht, so wie der gesamte Boden seines Gefängnisses von einer glitschigen, stinkenden Feuchtigkeit überzogen war. Ein Kübel für die Notdurft stand in einer Ecke. Es gab weder Tisch noch Stuhl und erst recht keine Pritsche, auf die er sich legen konnte. Am Boden sitzen oder durch den Raum wandern war das Einzige, was ihm blieb. Was ihm noch blieb, dachte er, denn ein Eisenring in der Wand und eine Kette machten deutlich, dass selbst diese begrenzte Freiheit jederzeit ein Ende finden konnte. Mehrmals durchwanderte er den Raum, dann ließ er sich an einer Stelle nieder, die ihm als die am wenigsten feuchte erschien, schloss sein verbliebenes Auge und gab sich alle Mühe, das Geschehene zu begreifen. Doch so sehr er sich auch das Gehirn zermarterte - er verstand nichts.

 

Stunde um Stunde verrann, irgendwann hörte er Stimmen im Gang und gleich darauf ging die Tür auf. Drei Männer traten ein - der grobe Kerl, der am Morgen seine Kammer durchsucht hatte, ein anderer, bei dem es 



sich der Kleidung nach um einen Richter handelte und ein weiterer, den Ulrich ebenfalls an der Kleidung erkannte und der ihm augenblicklich einen fürchterlichen Schrecken einjagte: der Henker. Ulrich hatte nur noch diesen Mann im Blick, so dass der Richter ihn ermahnen und auf sich aufmerksam machen musste. „Gehört dir das?“, fragte er und streckte die offene Hand aus. Was Ulrich darin sah, verursachte ihm einen weiteren Schock: das Medaillon mit dem Bild seiner Zwillingsschwester. Ihm wurde übel. Vor kurzem war es verloren gegangen, ohne dass er eine Vermutung gehabt hatte, wann und wo das geschehen sein konnte. Was er viele Jahre ständig bei sich gehabt hatte, war plötzlich weg gewesen, und nun hielt der Richter es in der Hand. „Ich will wissen, ob dir das gehört“, wiederholte er seine Frage. „Ja … ja ja, es gehört mir …“, stammelte Ulrich, „aber woher … Ich … ich hab es verloren … vor ein paar Tagen …“ Der Richter nickte, sichtlich befriedigt, dass sich die verfolgte Spur als zutreffend erwies. „Sieh an, du hast es verloren. Wir wissen auch, wo das war - in einer Kirche, eine knappe Tagesreise von hier entfernt.“ - „In einer Kirche?“, wiederholte Ulrich, angestrengt darum bemüht, die Zusammenhänge zu begreifen. „So ist es: in einer Kirche“, bestätigte der Richter. „Vor zwei Tagen um die Mittagszeit wurde in der Sakristei eingebrochen. Der Dieb hat mehrere Kostbarkeiten gestohlen. Und genau in dieser Sakristei lag dein Medaillon.“ Er sah Ulrich fest in die Augen, und seine Stimme, die zunächst fast etwas Beiläufiges gehabt hatte, war auf einmal schneidend und hart: „Du bist der Dieb!“ 

 

War Ulrich bereits bei dem Erscheinen der drei Männer blass geworden, so wurde er nun noch blasser. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Ein Dieb! Kostbarkeiten aus einer Kirche gestohlen! Der schlimmste Diebstahl, der denkbar war! „Ein Kirchendieb“, sagte der Henker - mehr zu sich selbst - und dabei sah er Ulrich an, als nehme er schon Maß für den Strick. Der Richter wollte gerade wieder das Wort ergreifen, als im Gang Schritte zu hören waren. Gleich darauf erschien ein weiterer Mann in der Tür. Da er aus dem Hellen kam, brauchte er 

einen Moment, bis er den Richter erkannte. Er trat an ihn heran und flüsterte ihm etwas ins Ohr, was Ulrich nicht verstehen konnte. „Ich komme“, antwortete der Richter. Dann wandte er sich noch einmal an Ulrich. „Wir sehen uns bald wieder, und dann wirst du uns in allen Einzelheiten von deinem Diebstahl erzählen. Auch, wo du die Beute versteckt hast. Und wenn ich Dir einen Rat geben darf: Du solltest gar nicht erst versuchen zu lügen …“ Er deutete auf den Henker, der die Worte des Richters mit dem angedeuteten Ausreißen eines Fingernagels unterstrich. Gleich darauf waren die Besucher verschwunden, und die Tür fiel wieder ins Schloss. 

 

Ulrich sank zu Boden, und das ausgerechnet an der Stelle, die am feuchtesten war. Er bemerkte es nicht. Es bemerkte auch nicht, wie es wieder still wurde vor der Tür. Er sah nur das Medaillon vor sich und den Henker. Auch wenn er sich die Zusammenhänge nicht erklären konnte, so war ihm nur allzu bewusst, in welcher Lage er sich befand. Völlig unabhängig davon, dass er den Diebstahl nicht begangen hatte - sie würden ihm nicht glauben! Sie hatten sein Medaillon, und damit den Worten des Richters zufolge den unumstößlichen Beweis, dass er in der Kirche war. Er stutzte. Woher wussten sie überhaupt, dass das Medaillon ihm gehörte? Er überlegte. Er hatte das Stück vielen seiner ehemaligen Kameraden gezeigt, auch solchen aus Zehdenick. Einer davon musste es erkannt haben, so musste es sein. Gleich darauf stutzte er ein zweites Mal: Hatte der Richter nicht gesagt, dass der Diebstahl „vor zwei Tagen um die Mittagszeit“ geschehen sei? Aber vor zwei Tagen konnte er gar nicht in dieser Kirche gewesen sein, eine knappe Tagesreise von hier entfernt - vor zwei Tagen um die Mittagszeit war Elsa bei ihm! Er erhob sich vom Boden und begann zu wandern, so weit sein Gefängnis das zuließ. Immer wieder ließ er die letzten Tage an sich vorbeiziehen, doch so viel er es auch drehte und wendete, er war sich sicher, dass beide Ereignisse zur selben Zeit stattgefunden hatten, der Diebstahl und Elsas Besuch. Ulrich spürte, wie das Leben in ihn zurückkehrte: Elsa war der eindeutige Beweis, dass er mit dem



Diebstahl nichts zu tun haben konnte! Sie musste dem Richter nur bestätigen, dass sie beide zur fraglichen Zeit hier in Zehdenick zusammengewesen waren, dann würde sich der Vorwurf als ein Missverständnis herausstellen, und der Richter musste ihn gehen lassen.

 

Schon fühlte Ulrich sich leichter, und für einen kurzen Moment ging es ihm beinahe schon wieder gut. Doch wie Sonne auf Regen folgt und Regen auf Sonne, so folgte auch in diesem Fall auf die Erleichterung sogleich wieder die Ernüchterung: Und wenn Elsa sich nun nicht zu ihrem Besuch bei ihm bekennen wollte? Immerhin handelte es sich für sie ja nicht um einen harmlosen Ausflug. Elsa war eine verheiratete Frau, und mit ihrem Besuch bei ihm hatte sie einen Ehebruch begangen! Und ein Ehebruch war alles andere als eine Kleinigkeit. Würde der bekannt werden, so musste sie damit rechnen, dass Jakob sie verstoßen würde. Und so wie sie ihm ihre Ehe geschildert hatte, würde er das vermutlich auch tun, auf jeden Fall konnte sie es nicht ausschließen. Und verstoßen, das würde für sie ein ungewisses Schicksal bis ans Ende ihrer Tage bedeuten, womöglich ein Leben in Armut und Hunger. Würde sie angesichts solcher Aussichten für ihn aussagen? Wohl kaum. Nur - wenn sie das nicht tat, wenn sie sich nicht zu ihrem Zusammensein bekannte, dann waren seine Tage gezählt. Also musste er es zumindest versuchen, sie zu einer Aussage zu veranlassen. Aber wie?

 

Wenig später wusste Ulrich, wie er vorgehen würde. Ungeduldig wartete er, während die Zeit mit der Geschwindigkeit einer Schnecke dahinkroch. Endlich hörte er wieder Schritte im Gang. Mit einem harten metallenen Geräusch drehte sich ein Schlüssel im Schloss, und die Tür wurde geöffnet. Ein Wärter brachte ihm einen Krug Wasser, warf ein Stück Brot daneben und wollte schon wieder gehen, als Ulrich auf ihn zutrat. „Ich brauche deine Hilfe“, stieß er hervor. Der Wärter machte eine abwehrende Geste, doch Ulrich fasste ihn am Arm und hielt ihn fest. „Keine Angst, ich tue dir nichts! Aber du musst mir 

helfen. Ich geb Dir Geld dafür.“ Das Wort Geld ließ den Wärter aufhorchen. „Du musst nur nach Curthschlag gehen und meinem Vater eine Nachricht überbringen, das ist alles. Mein Vater wird dir das versprochene Geld geben. Er ist der Schulze des Dorfes. Du musst aber noch heute gehen.“ Der Wärter schwankte. „Einen Taler“, sagte er schließlich, „ich will einen Taler. Sollte dein Vater den nicht rausrücken, ist es dein Pech. Und gehen kann ich erst morgen, heute ist es zu spät.“ Ulrich nickte heftig und begann sogleich, seinem Gegenüber die Worte einzuschärfen, die er ausrichten sollte. Zweimal wiederholte er sie, worauf der Wärter zur Bestätigung ein knappes „Hm“ knurrte und sich noch im selben Moment abwandte. Ein Mann, der am längeren Hebel saß. Gleich darauf war Ulrich wieder allein. Nun konnte er nur noch warten.