35. Kapitel

 

(Juli 1757; Kurtschlag) 

 

 

Bei dem Schulzen von Curthschlag erschien der Wärter am Morgen darauf. Natürlich nicht, weil es ihm wichtig gewesen wäre, dem Gefangenen einen Wunsch zu erfüllen, weil der ihn um Hilfe gebeten hatte. Der Gefangene war ihm so gleichgültig wie alle, die er in dem Gefängnis jemals beaufsichtigt hatte. Aber der Taler lockte, war ein solcher doch für einen Mann wie ihn eine Menge Geld, für das er einem anderen schon mal einen Gefallen erweisen konnte. Gleich nach Öffnung der Stadttore lief er in Zehdenick los, und als die Uhr die siebte Stunde schlug, hatte er sein Ziel schon beinahe erreicht. Dort hatte sich der Schulze gerade zu einer kurzen Verschnaufpause niedergelassen, nachdem die ersten Arbeiten des Tages erledigt waren und bevor er mit seinen Knechten aufs Feld gehen würde. Seine Miene war düster, er war schlecht gelaunt und reizbar wie seit mehreren Tagen, weshalb alle, die nicht unbedingt mit ihm zu tun haben mussten, ihn mieden. Woher diese schlechte Laune kam, wusste niemand, denn niemandem hatte er erzählt, was ihn bedrückte. Wie hätte er ihnen auch offenbaren können, dass es in ihrem Dorf eine gemeine Kindsmörderin gab, von der er wusste und die dennoch ihrer Arbeit nachging, als sei nichts geschehen. Seit er bei dem Brand in Jakobs Haus die Perle gefunden hatte als Beweis für ihr Verbrechen, wollte er den Richter davon unterrichten. Doch zuerst hatte ihn seine Verletzung daran gehindert und anschließend die Ankunft der neuen Kolonisten. Verzögerungen, die seine Geduld und seinen Gerechtigkeitssinn auf eine harte Probe gestellt hatten. Ein Schaden war dadurch allerdings nicht entstanden. Über die Perle hatte er während der ganzen Zeit mit keinem geredet, und auch Elsa hatte er nicht darauf angesprochen, so dass sie immer noch ahnungslos war. Noch ahnungslos war - aber das würde sich bald ändern. Dann würde die Stunde des Richters kommen, und die …

 

Eine Stimme unterbrach seine Gedanken. „Man hat mir gesagt, Du wärst der Schulze von Curthschlag?“, sagte ein Mann zu ihm, den er 

nicht kannte. „Das ist richtig. Und wer bist du?“ - „Ich komm aus Zehdenick. Dein Sohn schickt mich.“ Der Schulze blickte den anderen misstrauisch an. „Mein Sohn schickt dich? Was will er? Warum kommt er nicht selbst?“ - „Dein Sohn hat eine Nachricht für dich. Er hat gesagt, du gibst mir einen Taler, wenn ich dir die Nachricht überbringe.“ Der Schulze krauste die Stirn. „Warum sollte ich dir einen Taler geben?“ - „Weil dein Sohn im Gefängnis sitzt.“ Diesmal brauchte der Schulze einen Augenblick, bis er die Sprache wiederfand. „Weil mein Sohn was …?“ Er musterte den Mann von oben bis unten, unsicher, ob er einen Betrüger vor sich hatte. Vielleicht wollte der andere ihm ja nur sein Geld aus der Tasche ziehen. Vielleicht … Vielleicht aber auch nicht … Der Schulze griff in den Beutel an seinem Gürtel und suchte nach einem Taler. Früh am Morgen war er beim Böttcher gewesen und hatte ihm ein Butterfass bezahlt. Danach hatte er den Beutel nicht abgelegt, weshalb er jetzt Geld bei sich hatte. Seine Finger zitterten, als er seinem Gegenüber die Münze reichte. „Nun red schon! Was ist los?“ Der Mann steckte das Geld ein und begann zu erzählen, was Ulrich ihm aufgetragen hatte. In kurzen Sätzen berichtete er von dem vermeintlichen Diebstahl in einer Kirche, den Ulrich nach Ansicht des Richters begangen hatte, und von einer Frau namens Elsa, die in der Lage wäre, Ulrichs Unschuld zu beweisen, weil sie genau zu diesem Zeitpunkt bei ihm gewesen sei. Angestrengt hörte der Schulze zu, und mit jedem weiteren Satz wurde sein Gesicht immer blasser. Als der Bote geendet hatte, wollte der Schulze zusätzliche Einzelheiten erfahren, doch drängte er den anderen vergeblich, da dieser offenbar nicht Weiteres wusste. Schließlich gab er es auf, worauf der Mann sich wortlos umdrehte und verschwand.

 

Schweiß stand dem Schulzen auf der Stirn, hatte ihn das Gehörte doch aufs Höchste erregt. Dass sein Sohn unschuldig war, daran gab es der Schilderung des Boten zufolge keinen Zweifel, denn natürlich konnte er



zur selben Zeit nicht an zwei verschiedenen Orten gewesen sein. Und Elsa sei in der Lage, das zu beweisen, hatte der Bote gesagt. Doch ebenso wie Ulrich davon ausgegangen war, dass sie das nicht tun würde, so kam auch der Schulze zu demselben Schluss. Sagte sie vor dem Richter aus, so würde sie damit ein Siegel unter ihren Ehebruch setzen, mit allen sich für sie daraus ergebenden Folgen. Und wie er sie einschätzte, würde sie das um nichts auf der Welt tun, eher würde sie Ulrich dem Henker überantworten. Dem Henker! Schon sah der Schulze den Galgen vor sich, seinen Sohn mit einem Strick um den Hals, die Soldaten, wie sie die Trommel schlugen, und der Henker … Plötzlich durchzuckte ihn ein Gedanke: Es gab eine Möglichkeit, Ulrich zu retten. Das Schicksal hatte ihm eine Waffe in die Hand gegeben, die ebenso tödlich sein konnte wie ein Strick. Und um seinen Sohn zu retten, würde er nicht zögern, sie einzusetzen. Mochte der Richter Ulrich anschließend auch wegen des Ehebruchs mit einer verheirateten Frau zur Rechenschaft ziehen. Aber alles war besser als der Galgen.

 

 

Elsa fand der Schulze bei den Sandlöchern, wo sie neben zwei anderen Frauen gerade ihren Eimer vollschaufelte. Wie eine gewöhnliche Hausfrau sah sie aus, deren Lebensaufgabe einzig im Wohl ihrer Familie bestand, und dabei war sie eine grausame Mörderin und nach dem, was der Bote ihm gerade berichtet hatte, obendrein eine Ehebrecherin. Und ausgerechnet sein eigener Sohn hatte es mit diesem Weibsstück getrieben! Der Schulze spürte Wut in sich aufsteigen, doch er riss sich zusammen. In dem unverfänglichsten Ton, der ihm in diesem Augenblick möglich war, fragte er sie, ob sie wohl Zeit für ihn hätte. Elsa sah ihn überrascht an. Obwohl sie nicht wusste, worum es ging, spürte sie, dass etwas Bedrohliches in der Luft lag. Rasch füllte sie den restlichen Sand in ihren Eimer und folgte dann dem Schulzen in den Garten hinter seinem Gehöft. Nachdem dieser sich davon überzeugt 

hatte, dass niemand in der Nähe war, begann er zu sprechen. „Du warst bei Ulrich!“, kam er ohne Vorrede auf den Punkt, und die Röte in seinem Gesicht zeigte, wie aufgeregt er war. Elsa starrte ihn an. Sie fühlte sich überrumpelt, hatte sie mit einer solchen Aussage doch nicht gerechnet, noch dazu mit einer, die so eindeutig war. Woher wusste er das? Und warum sagte er es? Sie wollte antworten, aber der Schulze war noch nicht fertig. „Ulrich ist in größter Gefahr“, fuhr er fort. Und dann sprudelte aus ihm heraus, was er sich zurechtgelegt hatte: dass man Ulrich ins Gefängnis geworfen habe, weil man ihn eines Kirchendiebstahls beschuldige, den er aber nicht begangen haben könne, da er zur fraglichen Zeit mit ihr, Elsa, zusammen gewesen sei, und dass sie dieses Beisammensein vor dem Richter bekunden müsse, um Ulrich vor dem Galgen zu retten.

 

Elsa brauchte nur einen Augenblick, dann hatte sie begriffen, welche Folgen das haben würde, was der Schulze von ihr verlangte. Ihr ganzes Leben würde sie dadurch zerstören und sich dem Untergang weihen. Deshalb beschloss sie zu kämpfen. “Ulrich lügt! Ich war nicht bei ihm. Er will nur seinen Kopf aus der Schlinge ziehen.“ Der Schulze verzog verächtlich den Mund. Genau das Verhalten, dass er von ihr erwartet hatte. „Ulrich kann es beschwören“, wischte er ihren Einwand beiseite. „Und im übrigen wirst du kaum unbemerkt bei ihm gewesen sein. Zehdenick ist eine Stadt voller Menschen. Irgendjemand wird dich gesehen haben.“ Elsa zuckte zusammen. Die Frau! Noch während der Schulze gesprochen hatte, war ihr siedendheiß eingefallen, wie sie in Ulrichs Haus gestanden und der Frau Geld gegeben hatte, damit diese über ihren Ehebruch hinwegsah und außerdem für eine Weile verschwand. Also gab es tatsächlich eine Zeugin, doch vielleicht würde es ihr gelingen, dass die schwieg. So einfach würde sie die Flinte jedenfalls nicht ins Korn werfen. "Ja, es stimmt, ich war bei deinem 

 



Sohn. Aber ich werde mich nicht dazu bekennen, denn ich werde mein Leben nicht freiwillig zerstören.“ Entschlossen schüttelte sie den Kopf. „Nein, was du von mir verlangst, ist unmöglich.“

 

Hatte der Schulze die Mörderin zuvor schon mit Abscheu betrachtet, so hatte die Kaltherzigkeit, mit der sie über die tödliche Gefahr für seinen Sohn hinwegging, seinen Abscheu nunmehr in Hass verwandelt. In einen Hass, der es ihm geradezu zu einem Genuss machte, seinen Trumpf auszuspielen: „Ich hab die Perle.“ Vier Wörter nur, vier einfache kleine Wörter, aber die Botschaft war klar: Ich weiß, was du getan hast! Und außerdem: Ich hab dich in der Hand! Elsa war wie zu einer Salzsäule erstarrt. Zwar hatte sie nie endgültig ausschließen können, dass jemand die Perle gefunden hatte, auch wenn ihr das noch so unwahrscheinlich erschienen war. Dennoch war sie jetzt, als sie es mit Bestimmtheit erfuhr, einem Zusammenbruch nahe. Vier kleine Wörter hatten ihre Welt zum Wanken gebracht und drohten sie nun unter sich zu begraben. Sie hatte getötet. Sie hatte es zugelassen, dass die Angst vor Entdeckung ihr ständiger Begleiter geworden war. Und das alles in der Hoffnung auf ein glückliches Leben mit Jakob und ihren gemeinsamen Kindern. Für diese Hoffnung, die inzwischen so schmerzlich enttäuscht worden war. Und nun sollte ihr die Rechnung präsentiert werden. Folgte sie dem Schulzen und offenbarte sich dem Richter, würde Ulrich gerettet, ihr Leben hingegen wäre zerstört. Folgte sie ihm nicht, so erwartete sie der sichere Tod.

 

In Elsas Kopf wirbelte alles durcheinander. Fieberhaft suchte sie nach einem Ausweg aus der Falle, in der sie sich befand. Und dann wusste sie auf einmal, dass es noch eine Rettung für sie gab. "Und?", unterbrach der Schulze ihre Gedanken. Sie sah ihn an. "Du hast mich in der Hand. Gib mir die Perle, und ich werde vor dem Richter eine Aussage machen." Der Schulze schüttelte den Kopf. Vertrauen war das Letzte, was diese Frau verdiente. "Nein, du wirst zuerst eine Aussage 

 

machen, danach bekommst du die Perle.“ Jetzt war sie es, die den Vorschlag zurückwies. „Wie könnte ich sicher sein, dass du sie mir gibst, nachdem ich die Aussage gemacht habe? Und außerdem: Vielleicht weiß ja noch jemand von der Perle.“ - „Nur ich weiß davon. Einen Beweis dafür hab ich allerdings nicht. Du wirst dich auf mein Wort verlassen müssen.“ Und nachdem er einen Augenblick nachgedacht hatte: „Geben wir sie einer dritten Person. Die soll sie vorübergehend behalten, und wenn mein Sohn durch deine Aussage freigelassen wurde, bekommst du sie.“ Elsa versuchte in den Augen des Schulzen zu lesen. Konnte sie ihm trauen? Wusste wirklich nur er von der Perle? Oder gab es Mitwisser? Kurz zögerte sie, doch sie hatte keine Wahl. Sie musste das Risiko eingehen, und deshalb erklärte sie sich mit seinem Vorschlag einverstanden. Dass Ljuba dieses dritte Personen sein sollte, darauf hatten sie sich schnell geeinigt. Sie würde die Perle aufbewahren, fest verschlossen in einem Kästchen, so dass ihr der Inhalt unbekannt blieb. 

 

Den Kopf voller Gedanken, blickte der Schulze Elsa hinterher, als sie die Dorfstraße hinunter zu ihrem Haus ging. Dann wandte er sich seinem eigenen Haus zu. Nun mussten sie nur noch Ljuba die Perle übergeben, dann würden sie nach Zehdenick aufbrechen können. Er fühlte sich schlecht. Eine Mörderin, die einer Bestrafung entgeht, dachte er verbittert. Ein Frau, die das Leben eines Neugeborenen ausgelöscht hat, und die dennoch kein Henker zur Rechenschaft ziehen wird. Und er selbst würde schuld daran sein. Aber hatte er denn eine Wahl, wo es doch um das Leben seines Sohnes ging? Konnte man von ihm verlangen, sein eigenes Kind zu opfern, nur um der Gerechtigkeit Genüge zu tun?