36. Kapitel

 

(Juli 1757; zwischen Kurtschlag und Zehdenick) 

 

 

Um die Mittagszeit machten sie sich auf den Weg. Für ihre Angehörigen hatten sie sich halbwegs glaubhafte Ausreden ausgedacht, warum sie eine Zeitlang nicht im Dorf sein würden. Nachfragen wichen sie aus. Ihre Angelegenheit war viel zu wichtig, als dass sie sich von neugierigen Fragen oder vorwurfsvoll vorgetragenen Einwänden hätten aufhalten lassen. Auch dass der Ingenieur mit seiner Arbeit noch nicht fertig war und der Schulze eigentlich gebraucht wurde, war in dieser Situation ohne Bedeutung. Hier ging es um Leben oder Tod, alles andere war ohne Belang. Um keine unnötigen Fragen zu provozieren, falls sie jemandem begegneten, verließ jeder von ihnen Curthschlag auf einem anderen Weg, und erst ein gutes Stück hinter dem Dorf trafen sie wieder zusammen.

 

Schweigend liefen Elsa und der Schulze nebeneinander her. Was hätten sie auch reden sollen. Alles war gesagt, jeder wusste, was von ihm erwartet wurde und was er zu tun hatte. Doch sprachen sie auch kein Wort, so arbeitete es in ihren Köpfen um so heftiger. Noch bevor sie aufgebrochen waren, hatte Elsa sich einen Plan zurechtgelegt, den sie ein um das andere Mal immer wieder durchdachte. Und auch der Schulze fragte sich, ob er womöglich gerade einen Fehler machte, der ihm zum Nachteil gereichen könnte. So sehr waren beide mit ihren Überlegungen beschäftigt, dass ihnen vollständig entging, dass sie auf ihrem Weg nicht allein waren. Kurz vor ihrem Aufbruch hatte der Schulze Ljuba ein Päckchen übergeben, fest in ein Tuch gewickelt und gut verschnürt, und hatte sie gebeten, es vorübergehend aufzubewahren. Natürlich hatte sie ihm Fragen zu dem Päckchen gestellt, doch war er nicht darauf eingegangen, und sie hatte sich damit zufrieden geben müssen. Höchst merkwürdig kam ihr der Schulze in diesem Moment vor. Kannte sie ihn bis dahin als einen nüchternen Menschen, der sich klar und präzise auszudrücken verstand, so fiel ihr nun seine veränderte Art auf. Er war unkonzentriert, verhaspelte sich beim Sprechen und brachte keinen einzigen vollständigen Satz heraus. Schon in diesem Augenblick beschlich sie ein merkwürdiges Gefühl, das noch verstärkt wurde, als sie ihn mit schnellen Schritten und ohne noch einmal 

zurückzuschauen die Dorfstraße hinuntereilen sah. Warum sie den Entschluss fasste, ihm zu folgen, hätte sie nicht wirklich begründen können. Auch später, im Rückblick auf das Geschehen, fiel ihr kein zwingender Grund  dafür ein. Es war allein ein Gespür, was sie dazu veranlasste. Das, was man gemeinhin einen sechsten Sinn nannte. Entschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen, legte sie das Päckchen im Haus in eine Truhe zwischen die Wäsche und lief anschließend in einigem Abstand dem Schulzen hinterher. Zumindest ein Stück weit, sagte sie sich, irgendwann konnte sie dann ja umkehren. Ein Gedanke, den sie in Frage stellte, als sie kurze Zeit später Elsa ebenfalls das Dorf verlassen sah. Und als diese gleich darauf mit dem Schulzen zusammentraf und beide gemeinsam den Weg fortsetzten, da stand ihr Entschluss fest, ihnen auch weiter zu folgen. 

 

Eine halbe Stunde waren Elsa und der Schulze bereits unterwegs, als Elsa damit begann, ihren Plan in die Tat umzusetzen. Anstatt über einen Ast einfach hinwegzusteigen, der ihr im Weg lag, tat sie so, als würde sie über ihn stolpern und ließ sich fallen. Einen Moment blieb sie liegen, dann tastete sie nach ihrem Knöchel, und als sie ihn berührte, stöhnte sie auf. Zwei Mal versuchte sie aufzustehen, jedoch ohne Erfolg. Der Schulze verzog verärgert das Gesicht. Er reichte ihr die Hand und zog sie hoch, worauf sie gleich wieder in die Knie ging. Suchend schaute sie sich um und wies dann auf einen Ast, der ganz in der Nähe lag. „Gib ihn mir“, forderte sie den Schulzen auf. „Der ist zu lang“, antwortete er, „ich such dir einen kürzeren.“ Sie winkte ab. „Nein nein, der ist gerade richtig. Gib ihn mir! Ich will mich mit beiden Händen darauf stützen.“ Der Schulze brachte ihr den Ast, und mit einem abermaligen Stöhnen kam Elsa auf die Füße. „Es wird schon gehen“, sagte sie und versuchte, ihrer Stimme einen zuversichtlichen Klang zu geben. Zuerst unsicher, dann fester auftretend, machte sie ein paar Schritte vorwärts. „Wir müssen ein wenig langsamer gehen, aber mit dem Ast werde ich es schaffen.“ - „Na, dann los!“, antwortete der Schulze mitssmutig, und gemeinsam liefen sie weiter.

 

 



Der Kirchturm von Wesendorf war bereits in Sicht, als sie den Wald verließen, und ihr Weg über eine Wiese führte. Zu ihrer Linken lag in einiger Entfernung das Dorf, zur Rechten verlief ein Graben, den die Bauern angelegt hatten, um die Wiese zu entwässern. Da es in den letzten Wochen oft geregnet hatte, war der Graben zu einem guten Teil mit Wasser gefüllt. Elsa und der Schulze liefen an einer Seite entlang, als Elsa auf einmal stehen blieb. Vor ihrem Aufbruch hatte sie ein wenig Wegzehrung in einen Beutel getan und sich diesen über die Schulter geworfen. Jetzt nahm sie ihn ab. „Ich brauch eine kurze Pause“, sagte sie und deutete auf ihren Knöchel. „Wir können die Gelegenheit nutzen und etwas essen.“ Ungehalten über die neuerliche Unterbrechung, wollte der Schulze protestieren, willigte aber ein. Elsa griff mit der Hand in den Beutel und nahm ein Stück Brot heraus, das ihr gleich darauf aus der Hand rutschte und in den Graben fiel. Da die Böschung schräg und von Gras bewachsen war, landete das Brot nicht im Wasser sondern blieb oberhalb davon liegen. Mit schmerzverzerrtem Gesicht machte Elsa Anstalten niederzuknien, um das Stück wieder hochzuholen, doch konnte sie das Brot nicht erreichen. Der Schulze stöhnte verärgert. „Geh zur Seite!“, forderte er sie unwirsch auf, ließ sich nun seinerseits auf die Knie nieder und streckte sich nach dem Brot. In diesem Augenblick ergriff Elsa den Ast und schlug zu. Der Ast erwischte den Schulzen im Nacken, und ein kräftiger Fußtritt gab ihm den Rest. Völlig überrascht und ohne einen Laut von sich zu geben stürzte er in den Graben. Für einen Moment war er unter Wasser, dann tauchte er strampelnd wieder auf. Seine Hände langten nach der Böschung, er versuchte, sich an dem Gras festzuhalten und aus dem Graben zu ziehen, doch ein zweiter Schlag traf ihn am Kopf. Heftig strampelnd suchte er nach Halt, als auch schon ein nächster Schlag auf ihn niederfuhr. Abermals versank er im Wasser, und als er wieder hochkommen wollte, spürte er, wie er von dem Ast heruntergedrückt wurde. Er versuchte ihn wegzuschieben und mühte sich verzweifelt, zu

der anderen Böschung zu gelangen, doch schaffte er es nicht, sich zu befreien. Zum Äußersten entschlossen und unter Aufbietung aller Kräfte stukte Elsa ihn unter Wasser, immer und immer wieder, während die Luft rasch knapper wurde für ihn.

 

Doch dann war der Ast auf einmal weg, und nichts hielt den Schulzen mehr unter Wasser. Er stieß sich mit den Füßen von der Sohle des Grabens ab und tauchte auf. Und während er die Lungen wieder mit Luft füllte, erkannte er den Grund für seine Rettung: Elsa stand noch immer am Rand des Grabens mit dem Ast in der Hand, aber ihr Blick war jetzt nicht mehr ihm zugewandt, sondern der Frau, die in diesem Augenblick auf sie zustürmte, scheinbar aus dem Nichts aufgetaucht wie ein Geist, der vom Himmel gefallen war. „Ljuba …“, brachte Elsa ungläubig hervor, doch noch bevor sie den Namen zuende gesprochen hatte, stürzte diese sich auch schon auf sie. Mit der einen Hand entriss sie ihr den Ast, mit der anderen warf sie sie zu Boden, und noch bevor Elsa an Gegenwehr auch nur denken konnte, kniete Ljuba bereits über ihr. Gleich darauf war auch der Schulze heran und packte Elsa fest an den Armen, obwohl das nicht nötig gewesen wäre, denn sie rührte sich nicht mehr. Sie hatte verloren, und sie wusste es. Dass Ljuba und der Schulze hektisch miteinander redeten und dass sie zu verstehen versuchten, was hier gerade geschehen war - das alles sah Elsa zwar, aber sie hörte die Worte nicht, und sie hätte sie auch gar nicht hören wollen, denn nichts machte für sie in diesem Augenblick noch einen Sinn. Willenlos ließ sie es geschehen, dass die beiden ihr mit ihrem eigenen Kopftuch die Hände banden. Eine überflüssige Maßnahme, denn auch ohne diese hätte sie sich nicht zur Wehr gesetzt und auch nicht zu fliehen versucht. Den Kopf zu Boden gesenkt, ließ sie sich von dem Schulzen und Ljuba in die Mitte nehmen, und als sie losliefen, setzte sie mechanisch einen Fuß vor den anderen. Weder die Wiese sah sie noch den Wald, den sie gleich darauf durchquerten, und auch die 



nach einiger Zeit vor ihnen auftauchende Stadt, das Tor und die Wächter nahm sie nicht wahr. Wenig später stand sie vor dem Richter, an seiner Seite der Henker. Als sie vor dem Henker keine Angst hätte haben müssen, als sie ihm ein Stück von dem Strick eines Erhängten abgekauft hatte, da war sie ängstlich gewesen; jetzt, da es ernst für sie war, blieb sie ganz ruhig. Sie sah nichts und hörte nichts, war ganz weit weg in ihrer eigenen Welt, auch noch als der Richter auf sie einredete und ebenso danach, als man sie in das Gefängnis führte. Hart fiel die Tür hinter ihr ins Schloss. Dann war sie allein.