37. Kapitel

 

(Juli 1757; Zehdenick) 

 

 

Ganz Zehdenick war auf den Beinen, und viele Schaulustige aus den umliegenden Dörfern hatten sich eingefunden, als man Elsa an einem wolkenverhangenen Tag im Juli des Jahres 1757 auf einem Karren zur Richtstätte fuhr. Noch am Tag ihrer Einlieferung in das Gefängnis hatte sie gestanden. Mit der Perle konfrontiert, hatte sie gar nicht erst versucht, ihre Tat zu leugnen. Jawohl, sie habe das Neugeborene getötet, hatte sie dem Richter erklärt, indem sie es in den Schweinekoben geworfen habe, und vorher habe sie die Perle an sich genommen, weil diese so wunderschön gewesen sei und sie sich nicht von ihr habe trennen können. Hatte Elsa diesen Mord also sofort zugegeben, so hatte sie die Tötung von Clara zunächst zu leugnen versucht. Dass es überhaupt einen Verdacht gegen sie gegeben hatte, ging auf eine Aussage von Ljuba zurück, wonach Elsa sich wenige Tage vor Claras Tod auf eine auffällige Weise für Schierling interessiert hatte, der am Rand eines Feldes wuchs. Elsa bestritt anfänglich jeden Zusammenhang, doch als der Henker ihr die Werkzeuge zeigte - Daumenschrauben, Streckbank und Spanische Stiefel -, bevor er diese also überhaupt zur Anwendung brachte, gestand sie auch diesen Mord. Einen Giftmord, der als eine der verabscheuungswürdigsten Tötungsarten galt, weil das Verabreichen von Gift besonders heimtückisch war. Was den dritten Anklagepunkt betraf, den versuchten Mord an dem Schulzen, konnte sich der Richter auf dessen Aussage stützen sowie auf die von Ljuba, so dass Elsa also auch in diesem Fall nichts anderes übrig blieb, als sich zu der Tat zu bekennen. Zwei Morde und ein versuchter Mord, alle letztlich im Zusammenhang mit dem Bestreben, einen Mann für sich zu gewinnen, ohne jegliche Rücksicht auf andere Menschen, völlig roh und ohne jedes Gefühl - das war etwas, was der Richter in seiner gesamten Amtszeit noch nie erlebt hatte. Weshalb er sie nicht nur zum Tode verurteilte, sondern darüber hinaus auch von jeglicher Erleichterung bei der Hinrichtung absah wie etwa einem zuvor heimlich verabreichten Gift. Und er hatte die Hinrichtung gleich für den nächsten Tag angesetzt, auf dass „dieses

unmenschliche Weibsbild“ - so seine Worte - „nicht einen Tag länger Gottes Erde besudele.“

 

 

Es war früh am Morgen, als man Elsa aus dem Gefängnis holte, von wo sie zur Richtstätte gebracht werden sollte. Das erste Mal sollte sie von dem Henker mit einer glühenden Zange gezwickt werden, als sie auf dem Karren stand - eine Strafverschärfung, die der Richter verfügt hatte. Zahllose Zuschauer hatten sich zu dem Spektakel eingefunden, so viele, dass die Menge sich bis in die Seitenstraßen ergoss. Alle reckten die Köpfe, einige hatten Leitern mitgebracht, um besser sehen zu können, und aus jedem Fenster der umliegenden Häuser starrten mindestens zwei Gesichter. Weil er ein gutes Geschäft witterte, hatte sich der Wirt vom „Roten Adler“ von einem befreundeten Bauern einen Leiterwagen geliehen und zwei Dutzend Stehplätze darauf vermietet. Gespannte Erwartung machte sich breit, als der Henker die Zange aus dem Feuer holte und Elsas Fleisch damit verbrannte. Als käme er aus dem Innersten der Erde, hallte ihr Schrei über die Stadt hinweg, dann wurde sie ohnmächtig. Während die Menge frohlockte und Zuschauer lautstark Beifall spendeten - vor allem die Tötung des Neugeborenen hatte viele Frauen über alle Maßen wütend gemacht -, brachte der Knecht des Henkers sie mit einem Eimer Wasser ins Leben zurück. Dass sie anschließend um Gnade bettelte, hörten nur die Nächststehenden, aber Gnade gab es für sie nicht, wo doch alles beschlossen war, und das Urteil nur noch vollstreckt werden musste. Ein zweites Mal - auch das hatte der Richter bestimmt - zwickte man sie beim Stadttor, und hier nun sahen es auch diejenigen, die aus Curthschlag gekommen waren. Jakob stand abseits, kreidebleich im Gesicht und mit zitternden Knien, ebenso wie Elsas Eltern, die das völlig Unfassbare hatten erfahren müssen, dass ihre Tochter eine skrupellose Mörderin war. Wer es schaffte, begleitete den Karren bis zur Richtstätte, die sich ein Stück außerhalb der Stadt befand - die unübersehbare Aufforderung an jeden Fremden, sich während seines 



Aufenthalts in der Stadt an Recht und Gesetz zu halten. Bei der Richtstätte machte der Karren Halt, wo nach langjähriger Gewohnheit die Hinrichtungen und Verstümmelungen vollzogen wurden. Nicht so oft wie in größeren Städten, aber auch in einer kleinen wie Zehdenick und in den umliegenden Dörfern gab es Verbrechen, weshalb auch hier der Henker dann und wann tätig werden musste. In der Erwartung, dass das Böse aller Hoffnung zum Trotz und ungeachtet aller angedrohten Strafen auch in Zukunft seinen Platz in der Gesellschaft haben werde, hatten die Ratsherren sich für einen zweischläfrigen Galgen entschieden, zwei Pfosten mit einem aufliegenden Querbalken, der genug Platz für mehrere Gehängte bot. Je nach dem Urteil des Richters wurde ein Gehängter nach Eintritt des Todes abgenommen oder er blieb hängen, bis Wind und Wetter und die Raben ihr Werk verrichtet hatten und nur noch die Knochen übrig waren. So sollte es auch mit Elsa geschehen, weshalb der Richter die für ihre Vergehen üblicherweise verhängte Strafe des Kopfabschlagens in Hängen umgewandelt hatte. Was am Ende dann noch von ihr übrig war, würde man unter dem Galgen verscharren und nicht in geweihter Erde auf einem Friedhof begraben, auch das eine Strafverschärfung, die dem Richter angesichts der Schwere der Taten als angemessen erschien. Nachdem ein Geistlicher ein letztes Gebet über die Verurteilte gesprochen hatte, schlugen Soldaten der örtlichen Garnison die Trommeln und der Henker waltete seines Amtes. Und kaum hatte Elsa ihren letzten Atemzug getan, da rissen auf einmal die Wolken auf, und die Sonne brach durch - gerade so, als sei auch der Himmel erleichtert, dass das Leben eines bösen Menschen ein Ende gefunden hatte.

 

Einer nach dem anderen wandten sich die Zuschauer von dem Geschehen ab und strebten wieder ihrer Arbeit zu, die einen in der Stadt, die anderen in den Dörfern, wo sie ihr Leben so weiterführen würden wie bisher. Auch die Bewohner von Curthschlag machten sich auf den Heimweg, die meisten von ihnen schweigend und bis ins Innerste aufgewühlt von dem grausigen Geschehen, einige in Gespräche vertieft,weil es noch so viel zu sagen gab. Aber wie immer 

 

jeder Einzelne auf das Vorgefallene auch reagierte, so war die Betroffenheit doch bei allen gleich groß. Nicht, dass das Leben nicht auch vorher schon neben Gutem und Schönem auch Böses und Hässliches hervorgebracht hätte, Streit innerhalb der Familien und zwischen Nachbarn, Enttäuschungen, Hass, Ärger und Kummer. Überall gehörte all das zum Leben dazu, und auch in einem kleinen Dorf wie Curthschlag war das nicht anders. Doch was sich in diesem Fall zugetragen hatte, war ein Geschehen von einer ganz anderen Art. Jeder von ihnen hatte Elsa gekannt, eine aus ihrer Mitte war sie gewesen, und alle zusammen hatten sie den täglichen Kampf um die neue Heimat geführt. Nun war sie tot, weil sie etwas getan hatte, was zu dem Furchtbarsten gehört, was Menschen einander antun konnten. Endlich war dieses grausame Kapitel vorbei.

 

Doch was auch immer sich ereignet, und was die Herzen der Menschen auch noch so sehr aufwühlt, so beschäftigen selbst die schrecklichsten Dinge sie nur eine begrenzte Zeit, und schließlich holt der Alltag sie wieder ein. Und so ging denn auch das kleine Schorfheidedorf Curthschlag  bald wieder zur Tagesordnung über. Während in der großen Welt wie seit Urzeiten Herrscher einander ablösten, Reiche gegründet wurden und wieder verschwanden und dann und wann wohlmeinende Zeitgenossen Modelle für ein besseres Leben entwarfen, wurden in der kleinen Welt der dörflichen Gemeinschaft Felder bewirtschaftet und Ernten eingebracht, Haushalte versorgt und Bäume gepflanzt und hin und wieder auch Feste gefeiert, zu denen sich die Bewohner des Dorfes alle gemeinsam versammelten. Auch weitere Kolonisten fanden sich ein und sorgten für frisches Blut, Ehen wurden geschlossen und Kinder geboren, und irgendwann  wurden auch die ersten Alten zu Grabe getragen. Ein ganz normales Leben in einem ganz normalen Dorf also, für seine Bewohner aber gleichzeitig ein ganz besonderes, weil es ihr Heimatdorf war.

 


Ende