4. Kapitel

 

(April 1748, Südwesten Deutschlands) 

 

Bleich und nur mühsam beherrscht stand der Vater am Tor, als sich Jakob und Clara in Begleitung  von Adam vier Tage später auf den Weg machten, während die Mutter neben ihm bittere Tränen vergoss. Zwei Söhne hatte sie bereits verloren, beide waren im letzten Winter an der Roten Ruhr gestorben. Und nun ging auch noch Jakob, ihr Jüngster. Zog in ein Land, das weit weg war und Preußen hieß. Was darüber erzählt wurde, waren letztlich nur Gerüchte, denn wer wusste schon Genaues über dieses Land des Königs Friedrich, dessen Namen die Leute seit einiger Zeit im Munde führten, als sei es der Name eines Heiligen. Falls er wirklich so großzügig war, wie man hörte, dann zogen die drei geradewegs in ihr Glück. Stimmte es nicht, dann waren sie womöglich auf dem Weg in eine rabenschwarze Zukunft. Schließlich konnte alles ja auch ein großer Betrug sein, denn welcher hohe Herr gab schon freiwillig etwas von seinem Land ab oder verschenkte Häuser?

 

Jakobs Brüder gaben den drei Kolonisten das Geleit, bis diese hinter der Kate der Zimmermannswitwe das Dorf verließen und auf die Landstraße nach Alzey einbogen. Ihr Wagen war bereits arg in die Jahre gekommen, und Albert Ney hätte ihn für seinen Sohn nur allzu gern gegen einen neuen eingetauscht, schließlich stand diesem eine lange Wegstrecke bevor. Doch einen neuen Wagen hätte er dem Wagenbauer nicht bezahlen können, also hatten sie sich alle gemeinsam über den alten hergemacht, hatten Bretter ausgewechselt, Speichen in den Rädern ersetzt, und die Mutter hatte die Löcher in der Plane geflickt. Nur konnte auch noch so viel elterliche Liebe das Alter des Wagens nicht wettmachen. „Der hält nicht mal drei Tage durch“, hatten Nachbarn prophezeit - so bestimmt und so oft, dass Jakob beinahe schon selbst zu zweifeln begonnen hatte. Doch irgendwann hatte er sich gefragt, ob es vielleicht nur der Neid war, der die Nachbarn zu solchen Bemerkungen veranlasste. Der Neid, dass andere die Gelegenheit beim

Schopf packten und sich mutig auf den Weg in ein neues Leben machten, während sie selbst zwar Tag für Tag mit ihrem Schicksal haderten, aber daheim blieben.

 

Jakob und Clara blickten sich ein letztes Mal nach ihrem Dorf um, bevor es hinter dem Wald verschwand. Kurz darauf wurde ihre Aufmerksamkeit von der Landstraße in Anspruch genommen, die an dieser Stelle neben einem Bach entlangführte und deshalb die meiste Zeit des Jahres einem Schlammbad glich. Wie ein Schiff schaukelte der Wagen über die kritischen Stellen. Clara saß auf dem Kutschbock, Jakob führte das Pferd am Zügel, und Adam lief hinter dem Wagen und trieb die Kuh und die beiden Ziegen an, denen das gleichförmige Laufen erst noch in Fleisch und Blut übergehen musste. Auf dem Wagen, verdeckt unter der Plane, hatten sie ihre Habseligkeiten verstaut, nur die notwendigsten Dinge, vor allem Vorräte wie Getreide für den täglichen Brei, ein paar Leinensäcke mit Erbsen und Linsen, Kisten voll getrockneter Äpfel, Nüsse und Hartkäse, dazu Speck, Pökelfleisch und Trockenfisch sowie in Tongefäßen Sauerkraut und Butter - alles, was haltbar war und ihnen in den nächsten Wochen Kraft geben konnte. Kleider besaßen sie nur wenige, weshalb eine einzige Truhe ausreichte. Für den Winter würden sie neue anfertigen müssen, wärmende, aber das sei im Land des Preußenkönigs leicht getan, hatten ihnen die Werber versichert. Ob nun leicht oder nicht - hängen lassen würde der König sie ganz gewiss nicht, schließlich würden ihm erfrorene Bauern nichts nützen.

 

Den Weg nach Alzey zu finden, fiel Jakob nicht schwer. Mehrmals war er mit seinem Vater und den Brüdern auf dem dortigen Jahrmarkt gewesen, der für die Menschen der Gegend eines der herausragenden Ereignisse im Kalender war. Von diesen Besuchen her wusste Jakob von der Lichtung, die sich ein Stück außerhalb der Stadt befand. Hier, 



so hatten die Werber in den Dörfern verkündet, sollten sich zum festgesetzten Zeitpunkt diejenigen einfinden, die dem Ruf des Preußenkönigs zu folgen gedachten. Von hier aus würde die Reise starten, die sie durch eine Reihe von Ländern ans Ziel bringen würde. Die Dämmerung hatte noch nicht eingesetzt, als ihr Wagen einen schmalen, mit Reisig ausgebesserten und damit leidlich befahrbaren Weg entlangrollte, der von der Landstraße zu der hinter einem Wäldchen gelegenen Lichtung führte.

 

Wie sie feststellten, waren sie nicht die ersten. Vor ihnen hatten bereits andere Wagen den Treffpunkt erreicht, gut zwei Dutzend Männer und Frauen mit noch mehr Kindern, die sich über die Lichtung verteilt aufgestellt hatten. Auch diese Familien führten Tiere mit, neben den Zugpferden einige Ziegen, ein paar Kühe und dazu noch zwei Esel. Zwischen den Wagen scharrten Hühner im Gras, daneben watschelten Enten und Gänse. Jakob, Clara und Adam lenkten ihren Wagen zu dem kleinen Bach, der die Lichtung begrenzte. Keiner von ihnen kannte auch nur einen einzigen von den Versammelten, und doch war schon in diesem ersten Moment der Begegnung ein Ansatz von Vertrautheit zu spüren. Handelte es sich doch bei allen um Gleichgesinnte, die unabhängig von ihren jeweiligen Beweggründen das gleiche Ziel hatten. Adam schirrte das Pferd aus, Clara versorgte die Ziegen, während sich Jakob am Gepäck zu schaffen machte, um ihr Gefährt in eine Bleibe für die Nacht zu verwandeln. Nachdem sie in einem Gebet dem Herrgott für den erfolgreichen Beginn ihrer Reise gedankt hatten - was hätte schon an diesem ersten Tag alles schiefgehen können! -, nahmen sie schweigend ihre Mahlzeit ein. Schließlich zog Clara sich in den Wagen zurück, während Adam und Jakob zu einem anderen Wagen hinüberwechselten. Eine Gruppe Männer saß um ein Feuer herum und machte sich über ein Fässchen Wein her, das einer von ihnen beigesteuert hatte.

Nach einigem Vorgeplänkel über die Qualität der Landstraßen, den Zustand der Wagen und wie schwierig es gewesen war, auch nur die wichtigsten Dinge darin unterzubringen, riss ein Mann mit einem ausladenden Bart und einer tiefen, dunklen Stimme das Gespräch an sich. Sein Name sei Peter Bremm, stellte er sich vor, und er stamme aus einem Ort namens Simmern. Seine Familie sei dort seit vielen Generationen ansässig, doch nun habe er sich entschlossen, seine Heimat zu verlassen. Ausschlaggebend dafür sei die Gier seines Grundherrn gewesen, die ständig steigenden Abgaben, die ihm und seiner Familie kaum noch das Nötigste zum Leben gelassen hätten.  Aber auch die Unterdrückung seiner Religion habe eine Rolle gespielt, derselbe Grund, der schon so viele Menschen zum Fortgehen veranlasst hatte. Nachdem er auf diese Art von sich berichtet hatte, wollte er auch von den anderen etwas erfahren. Eine Neugier, die niemand ihm übel nahm, und so gab jeder bereitwillig Auskunft, wollten sich doch alle einen Überblick über ihre Reisegefährten verschaffen. „Schließlich können wir unterwegs jederzeit in eine brenzlige Situation geraten“, sagte einer, „in der wir aufeinander angewiesen sind. Da ist es wichtig, die anderen zu kennen.“

 

Aus einem Ort namens Grumbach kamen zwei - ein schon etwas älterer Mann namens Philipp Schuch sowie Jacob Neubauer, sein Nachbar und zugleich sein Schwager, nachdem er eine von Philipps Schwestern zu seiner Ehefrau gemacht hatte. Jacob Neubauer war Böttcher, konnte aber ebenso gut mit Pflug und Sense umgehen wie mit Hammer und Bandhaken, was ihm in der neuen Heimat gewiss von Nutzen sein würde. Der nächste in der Reihe, Arnold Steuer, stammte aus einem Weiler ganz in der Nähe. Alles sei bei ihm gut gelaufen, erzählte er, bis ihm ein Nachbar im Streit das Haus angezündet habe. Um den Nachbarn habe sich anschließend der Henker gekümmert, er selbst hätte zu einem Geldverleiher gehen müssen, aber das wollte er nicht. 



Und gerade zu diesem Zeitpunkt seien die Werber für das Königreich Preußen in seiner Gegend aufgetaucht. Nach kurzem Überlegen habe er unterschrieben, und nun sei er hier, zusammen mit seiner Familie, und erhoffe sich wie alle eine bessere Zukunft. „Trinken wir auf unser neues Leben!“, rief der neben ihm Sitzende und hob seinen Becher. Heinrich Müller, ein Bauer, der neben seinem Acker ein paar Weinstöcke sein eigen genannt hatte und nun hoffte, seine Erfahrungen mit dem Anbau von Wein in der neuen Heimat nutzen zu können, weshalb er einige Pflanzen mitgenommen hatte. Schließlich ergriff der Letzte in der Runde das Wort, Georg Spieß, der seinen Namen allerdings nur flüsterte. „Weil ich von den Soldaten bin“, sagte er leise. Die anderen nickten verstehend. Einer, der unterschrieben hatte und sich nun davonstehlen wollte. Jeder kannte solche Geschichten von Anwerbern, die im Auftrag eines Herrn neue Soldaten rekrutieren sollten und dabei vor keinem schmutzigen Trick zurückschreckten. Oft machten sie Männer betrunken, hielten ihnen anschließend ein Papier unter die Nase und ließen sie ihre Namen darauf kritzeln. Waren ihre Opfer später wieder bei Sinnen und wollten alles rückgängig machen, zeigten die Dreckskerle ihnen die Unterschrift, und das war’s. Mochten die Ärmsten auch tausend Mal versichern, dass man sie auf übelste Weise betrogen hatte, so nützten ihnen solche Erklärungen nicht das Geringste. Einen Widerruf gab es nicht. Und wer das nicht einsah und heimlich davonlief, auf den wartete - wenn man ihn wieder einfing - der Strick.

 

Geschichten wie diese berührten alle Versammelten, und weil jeder noch eigene Erlebnisse beizutragen wusste, nahm das Gespräch weiter an Fahrt auf. Erst als das Feuer heruntergebrannt und das Weinfässchen leer war, zogen sich alle in ihre Wagen zurück. Gleich darauf senkte sich Stille über die Lichtung, nur durchbrochen von den Geräuschen der Schlafenden. Jeder schöpfte Kraft für die bevorstehende Reise.

Am nächsten Tag um die Mittagszeit kamen zwei Männer von der Landstraße her auf die Lichtung geritten. Mit einem Schlag verstummten sämtliche Gespräche, und die Augen aller Anwesenden wandten sich den Ankömmlingen zu. In der Mitte zwischen den Wagen stellten die beiden sich auf, während die Kolonisten zusammenströmten. „Wir sind hier im Auftrag Seiner Majestät, des Königs von Preußen und Kurfürsten von Brandenburg“, rief einer der beiden, und dabei ließ er seinen Blick prüfend über die Versammelten schweifen. Nur die Kräftigen sollten sich auf den Weg machen, so hatten sie bei ihren Auftritten in den Dörfern erzählt, Schwächlinge könne der König nicht brauchen. Wie es aussah, hatten sich alle an diese Anweisung gehalten. Die wichtigsten Auskünfte über ihre neue Heimat hatten die Kolonisten bereits bekommen, nun waren nur noch einige nachträglich aufgetauchte Fragen zu beantworten. Und dann nahm endlich das seinen Anfang, worauf alle so sehnsüchtig gewartet hatten: Die Reise ging los. Angeführt von den beiden Werbern, die ihnen ab jetzt als Führer dienten, setzte sich der Zug in Bewegung. Seit ihrer Geburt waren die meisten Männer und Frauen nie weiter weg von ihren Dörfern gewesen als eine Tagesreise, und wären sie geblieben, so hätte sich daran auch nichts geändert. Nun sollte es in ein Land gehen, das weit entfernt lag und bis zu dem sie lange unterwegs sein würden. Was für eine andere Welt würde das sein, die sie erwartete! Völlig fremd, neu und aufregend und vielleicht auch gefährlich. Und immer mit der Möglichkeit, dass sie trotz aller Anstrengungen scheiterten. „Möge der Herr seine Hand über uns halten, auf dass wir unsere Entscheidung nicht eines Tages bereuen!“, raunte Jakob Clara zu. „Wir werden es schaffen!“, gab sie zuversichtlich zurück. „Und wenn wir eines Tages einen Sohn haben, so wird er ein freier Mann auf eigener Scholle sein, und ein gutes Leben wird ihn erwarten. So wahr uns Gott helfe!“

 

 



Noch am selben Abend erreichten sie den Rhein. Angst breitete sich bei so manchem der Reisenden aus, denn einen solch mächtigen Fluss, breit wie die Feldflur eines ganzen Dorfes, hatten sie nie zuvor gesehen. Es hätte nicht viel gefehlt, und einige hätten schon jetzt ihr Abenteuer bereut. Aber wie es schien, hatten die beiden Führer die Sache im Griff. Kaum stand die Sonne am nächsten Morgen am Himmel, setzten sie alle mitsamt ihren Wagen und den Tieren auf Flößen über den Fluss. Ängstlich klammerten sich etliche an ihre Wagen, um nur ja nicht ins Wasser zu fallen und - da niemand die Kunst des Schwimmens beherrschte - in den Fluten zu ertrinken. Doch sicher erreichten alle das andere Ufer, wo sich bald darauf ihr Zug durch weitere Auswanderer vom anderen Rheinufer noch einmal vergrößerte.

 

Kurz hinter der Stadt Hanau lernten Jakob und Adam Jost Schwefel kennen. Er stammte aus einem winzigen Flecken, in dessen Nähe sie vorbeigekommen waren, und nach einem kurzen Gespräch mit den beiden Führern hatte er sich den Kolonisten angeschlossen. Offensichtlich hatte er ihren Anforderungen genügt, was auch kaum erstaunen konnte, denn er war stark wie ein Bär und vermittelte den Eindruck, dass er ein guter Arbeiter war. Jost Schwefel war allein unterwegs, Frau und Kinder hatte er nicht, nur einen Wagen und ein Pferd und den unerschütterlichen Glauben, dass sein Leben sich noch zum Besseren wenden ließ. Der Zufall hatte es gewollt, dass er mit seinem Wagen vor dem von Jakob fuhr, und so kamen die beiden ins Gespräch, als der Zug am Mittag des folgenden Tages eine Pause einlegte. Eine unfreiwillige, nachdem ein Pferd zusammengebrochen war. Wer etwas von Pferden verstand, der hatte schon vor Antritt der Reise gesehen, dass das Tier krank war. Aber in der Hoffnung, dass alles gut gehen werde, hatte die Familie auf das Tier gesetzt. Was hätten sie sonst auch machen können, denn mehr als dieses eine Pferd besaßen sie nicht. Vermutlich hatten sie ein Gebet nach dem anderen zum 

Himmel geschickt, dass das Tier durchhalten möge. Vergeblich, wie sich jetzt herausstellte, denn nun lag es am Boden, und trotz Peitschenhieben und zahlreicher Fußtritte war es nicht zum Aufstehen zu bewegen.

 

"Gescheitert", fasst Jost Schwefel in einem Wort zusammen, was alle anderen dachten. "So ist es mir auch schon mal ergangen." Jakob sah ihn fragend an. "Heißt das, du hast es schon mal versucht?" Der Angesprochene wollte antworten, aber Peitschenknallen unterbrach ihn. Wie nicht anders zu erwarten war, hatten die Führer bestimmt, dass die Reise ohne Unterbrechnung weitergehen sollte. Eine alternativlose Entscheidung, auch wenn sie für die Besitzer des Pferdes eine Katastrophe war. Hatten sie Glück, dann konnten sie von ihrem Ersparten - falls sie welches besaßen - im nächsten Dorf ein neues Tier kaufen, allerdings würde der Zug dann längst über alle Berge sein. Ein trauriges Schicksal, das die Herzen aller Mitreisenden bewegte. Einer nach dem anderen nahmen sie Abschied von den Unglücklichen. „Vertraut auf Gott, denn er wird euch nicht im Stich lassen“, versuchte ein Pfarrer sie zu trösten, der sich am Vortag mit den Worten „Was nützen dem Preußenkönig die kräftigsten Kerle, wenn sich niemand um ihr Seelenheil kümmert?“ dem Zug angeschlossen hatte. Mit versteinertem Gesicht sah der Mann ihn an, während die Frau tränenüberströmt neben ihm zusammengebrochen war.

 

Was bei Jost Schwefel schief gegangen war, erfuhren Adam, Jakob und Clara am Abend, als sie sich auf ihrem Rastplatz für die Nacht eingerichtet hatten. Wieder saßen Gruppen um Feuer herum und tranken von dem Wein ihrer verlassenen Heimat. „Wir waren elf Kinder auf unserem Hof“, begann Jost Schwefel seine Geschichte, „sieben davon waren Jungen. Der Hof war viel zu klein, um uns alle zu ernähren. Zu wenig Land für zu viele hungrige Mäuler. Also hab ich mein Bündel geschnürt, zusammen mit zweien meiner Brüder. Ein 



Nachbar war nach Pennsylvanien gegangen, das liegt in Amerika, dort leben schon einige aus unserer Gegend. Eines Tages hatte dieser Nachbar einen Brief nach Hause geschrieben. ‚Es geht mir gut‘, stand darin, ‚ich bin mein eigener Herr, niemand kann mir befehlen, und inzwischen hab ich es sogar schon zu einem kleinen Vermögen gebracht.‘ Als wir davon erfuhren …“

 

 - „ … da wolltet ihr es ihm nachmachen“, vollendete Jakob den Satz. „Denn wo einer satt wird, da sollten auch andere satt werden ...“

 

„Genau so war es. Drei kräftige Burschen müssen es doch zu etwas bringen, haben wir uns gesagt. Also sind wir in der Karwoche vor drei Jahren dann weg von zu Hause. Zunächst in die Stadt Rotterdam, die liegt am Meer und hat einen Hafen. Mehrere Schiffe lagen dort vor Anker, und in der Stadt hatten sich viele Menschen versammelt, die alle nach Amerika wollten. Auch sie waren arm und hofften auf ein neues Leben hinter dem Meer. Wir haben uns erstmal eine Herberge gesucht, und kaum waren wir durch die Tür, da erschien ein Kerl und redete auf uns ein. Zwar sprach er unsere Sprache mehr schlecht als recht, aber wir haben ihn verstanden. Die meisten Leute müssten lange auf eine Überfahrt warten, hat er gesagt, er aber würde einen Kapitän kennen, einen Freund seines Vaters, bei dem könnte er ein Wort für uns einlegen, damit es schneller geht. Natürlich waren wir misstrauisch, schließlich hatte man uns vor Betrügern gewarnt. Doch was er sagte, klang überzeugend. Und außerdem hatten wir schon mehrmals gehört, dass viele Auswanderer tatsächlich wochenlang auf ein Schiff warten mussten. Er wolle uns nicht drängen, hat der Mann gesagt, aber der Freund seines Vaters würde in den nächsten Tagen ablegen, deshalb müssten wir uns entscheiden. Sollten wir sein Angebot ablehnen, hat er gesagt, so wäre das nicht schlimm für ihn, schließlich warteten genug 

Menschen auf einen Platz für die Überfahrt. Er hat uns dann noch das Schiff gezeigt und uns alle Einzelheiten der Reise genannt. Alles schien in Ordnung, deshalb haben wir zugesagt und bezahlt.“

 

Jakob und Adam warfen sich Blicke zu. Was sie vermuteten, folgte schon im nächsten Satz: „Ein  hundsgemeiner Schwindler war dieser Kerl!“, ereiferte sich Jost Schwefel. Obwohl er seine Geschichte schon unzählige Male erzählt hatte, lag immer noch Wut in seiner Stimme. „Von wegen ‚in den nächsten Tagen‘ würde das Schiff ablegen … Als wir am nächsten Morgen zum Liegeplatz kamen, war es weg, und zwar ohne uns. Und der Kerl, dem wir unser Geld gegeben hatten, war ebenfalls weg. Hätten wir ihn gefunden, hätten wir ihm den Hals umgedreht. Aber wie gesagt, er war weg. Was blieb uns also übrig, als ein anderes Schiff zu suchen. Wir mussten fast das gesamte restliche Geld zusammenkratzen, das uns noch geblieben war, aber nach sieben endlosen Wochen im Hafen ging es dann tatsächlich los. Allerdings auf einem völlig heruntergekommenen Dreckskahn!“ Er schnaubte wütend. „Der Kapitän war ein ungehobelter, ständig nach Rum stinkender Schuft, für den Auswanderer wie wir der letzte Abschaum waren. Rund zweihundert Leute hat er an Bord genommen. Unter Deck hat man uns alle zusammengepfercht. Ein Gestank, der kaum auszuhalten war. Licht gab es nur durch zwei Luken, dafür rannten um so mehr Ratten herum. Erschlug man die eine, war im nächsten Moment schon eine andere da. Eine Frau hat auf der Überfahrt ein Kind geboren, das haben diese Drecksviecher im Schlaf angefressen.“ Entsetzt zuckte Clara zusammen und tastete nach ihrem Leib. „Wie lange hat die Überfahrt gedauert?“, wollte Adam wissen. Sein Gegenüber hielt zwei Finger in die Höhe. „Volle zwei Monate! Die meiste Zeit waren wir unter Deck, nur selten ließen sie uns nach oben. Gegessen haben wir auch dort unten … ach, was sag ich, gegessen … Die ersten Tage war es noch einigermaßen 



erträglich, aber danach … Die Schweine auf unserem Hof hätten den Fraß nicht angerührt, das könnt ihr mir glauben! Doch der Herrgott hat den Menschen nicht fürs Verhungern gemacht, also haben wir uns das Zeug reingequält. Wir waren gerade mal zwei Wochen unterwegs, da wurden die ersten krank. Bald darauf sind sie gestorben. Weil der Kapitän zu betrunken war, hat der Steuermann aus der Heiligen Schrift vorgelesen. Danach haben wir alle zusammen für das Seelenheil der Verstorbenen gebetet, und ab ging’s ins Wasser. Später sind noch ein paar Weitere krank geworden, einige von denen sind ebenfalls gestorben. Und eine Woche vor unserer Ankunft in Amerika hat es mich dann auch noch erwischt. Meine Brüder wollten mir vom Schiff helfen, aber die Scheißkerle in Amerika haben das nicht erlaubt. Weil ich krank war, haben sie mich nicht an Land gelassen. So nah schon dem neuen Leben, und nach all den vielen Opfern und Anstrengungen musste ich umkehren!“

 

Für eine Weile versank Jost Schwefel in Schweigen, so als würde er die Situation noch einmal durchleben. „Ich blieb auf dem Schiff zurück“, nahm er seinen Bericht schließlich wieder auf, nachdem er zuvor Wein nachgegossen hatte. „Meine Brüder haben gezögert, sie wollten mich nicht im Stich lassen und ebenfalls die Heimreise antreten. Aber hätte das Sinn gemacht? Nein, also haben wir uns getrennt. Der Kapitän musste mich wieder mitnehmen, ebenso wie ein paar andere, denen es genau so ging wie mir. Natürlich verlangte er Geld dafür, und so gab ich ihm das Wenige, was ich noch besaß. So wenig war’s, dass ich die ganze Rückfahrt über Angst hatte, er könnte mich bei der nächstbesten Gelegenheit über Bord werfen. Aber wie ihr seht, hat er’s nicht getan. Stattdessen hat er mich zusammen mit den anderen Kranken in einen winzigen Verschlag unter Deck gesperrt, und hätte nicht einer von der Mannschaft uns ab und zu etwas zu essen zugesteckt, wir wären alle krepiert.“

„Du hast überlebt“, sprach Jakob das Offensichtliche aus. „Und wenn ich dich so ansehe, bist du wieder gut beieinander.“ - „Ja, ich hab überlebt. Ich bin nicht an der Krankheit gestorben, und ich bin auch nicht mit dem Schiff abgesoffen wie manch andere. Obwohl es eine schreckliche Zeit war, konnte ich meine Füße wieder auf festen Boden setzen. Im Hafen hat sich dann eine mitleidige Seele meiner erbarmt und mich gesund gepflegt. Nach einigen Wochen war ich wieder bei Kräften und konnte die Hilfe abarbeiten. Später bin ich zu meiner Familie zurückgekehrt, doch natürlich hatte sich der Boden seit meinem Fortgang nicht vermehrt. Immer noch zu wenig Land für zu viele Hungrige. Den Rest kennt ihr. Als ihr in meiner Nähe vorbeigekommen seid, hab ich nicht lange gezögert. In Amerika ist mein Traum gescheitert - hoffen wir, dass er in Preußen gelingt!“ Er hob seinen Becher, und die anderen taten es ihm gleich. „Auf Preußen!“, sagten sie alle gleichzeitig. Und fest entschlossen, ihren gemeinsamen Traum Wirklichkeit werden zu lassen, leerten sie ihre Becher in einem Zug.

 

________________________________________________________

 

 

Rote Ruhr: Dysenterie, Durchfallerkrankung mit teilweise tödlichem Ausgang