5. Kapitel

 

(Frühsommer 1748, Berlin) 

 

Es war wie bei einem Unwetter: Wolken ziehen auf und ballen sich zusammen, der Himmel wird dunkler, es sieht immer bedrohlicher aus, und dann, auf dem Höhepunkt, entlädt sich das Gewitter. Zwangsläufig und unaufhaltsam. Danach sind die Wolken verschwunden, die Luft ist klar, die Natur atmet auf, und alles ist wieder ganz friedlich. Vielleicht. Vielleicht hat aber auch ein Blitz eingeschlagen. 

 

Auch in Berlin brauten sich die Wolken zusammen, nachdem Ursula, die Ehefrau des Tischlermeisters Mathias Hültz, in der Kirche von Sankt Peter den Beutel an sich genommen hatte, der einem anderen abhanden gekommen war. Am liebsten hätte sie sich unsichtbar gemacht, als sie mit dem vielen Geld nach Hause geeilt war, auf dass niemand ihre ruchlose Tat entdeckte. Bis zum Hals schlug ihr das Herz, ihr Atem ging schnell, und als sie mit zitternden Händen die Tür öffnete und ins Haus trat, da lehnte sie sich erst einmal gegen die Wand, aus Angst, sie könnte ohnmächtig werden. Der Schatz, den sie unter ihren Kleidern verborgen hielt, schien zu brennen, so jedenfalls empfand sie es. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass die Fenster geschlossen waren und kein Fremder sie beobachtete, zog sie den Beutel hervor und legte ihn auf den Tisch. Sie hatte gerade ihr Kopftuch abgebunden und es im Gegensatz zu ihrer sonstigen Sorgfalt achtlos über einen Stuhl geworfen, als ihr Ehemann in den Raum trat. Er war schlecht gelaunt wie an allen Tagen, seit er von dem Rittmeister zurückgekehrt war, sah grau aus im Gesicht, hatte Sorgenfalten auf der Stirn und Augen, denen der Kummer schon von weitem anzusehen war. Statt etwas zu sagen, so wie er es bei der Rückkehr seiner Ehefrau sonst zu tun pflegte, sah er sie diesmal nur stumm an, als erwarte er von ihr einen Bericht, ob sich bei ihrem Kirchgang etwas Mitteilenswertes ereignet hatte. Allein, sie schwieg ebenfalls, und dabei sah sie ihn so eindringlich an, wie er das nur selten bei ihr erlebt hatte. „Was ist los?“, fragte er in demselben Moment, als sein Blick auf den Tisch fiel und er einen mit silbernen Plättchen verzierten Beutel entdeckte. „Was ist das?“, wollte er wissen 

und trat näher heran. Dass der Gegenstand wertvoll war, sah man ihm an, und dass er nicht zum Haushalt gehörte, wusste er. „Was ist los?“, wiederholte er deshalb die Frage.

 

Seine Ehefrau hielt sich mit beiden Händen am Tisch fest. Den ganzen Heimweg über hatte sie sich seine Reaktion vorzustellen versucht, ohne dass sie zu einem Schluss gekommen war. Und das, obwohl sie beide seit mehr als zwanzig Jahren Mann und Frau waren und sie gedacht hatte, sie wüsste alles über ihn und könnte ihn stets richtig einschätzen. In diesem Augenblick aber versagte ihr Wissen, hatte es eine vergleichbare Situation in diesen zwanzig Jahren doch niemals gegeben. „Der Beutel …“, begann sie kaum hörbar. Und noch einmal „Der Beutel …“ Und dann fing sie an, von ihrem Erlebnis in der Kirche zu berichten. Schon als sie erwähnte, dass der Beutel am Boden gelegen hatte, war ihrem Ehemann klar, worum es ging. War sein Gesicht bis dahin grau gewesen, so wechselte es nun mit einem Schlag in Kalkweiß, und er musste sich setzen. So wie sie zuvor, streckte er die Hand  nach dem Beutel aus, zog die Kordel auf und langte hinein. „Ich hab für uns gebetet“, warb die Tischlersfrau um Verständnis für ihre Tat, „und plötzlich lag er da.“ Er sah sie an. „Du denkst doch nicht etwa daran, ihn zu behalten!“ Sie senkte den Blick. „Wir könnten ja nur das Allernotwendigste entnehmen, das wir zum Leben benötigen. Und wenn du wieder Aufträge hast, ersetzen wir das Geld, und ich bringe den Beutel zurück.“ - „Und wenn sie ihn vorher bei uns finden?“, warf er ein. „Das wäre … dein Tod!“ Bei dem Wort Tod zuckte sie zusammen. Daran hatte sie auch schon gedacht, ja es war sogar einer ihrer ersten Gedanken gewesen, als der Beutel noch in der Kirche gelegen hatte. Aber niemand würde ihn bei ihnen finden, schließlich wusste ja niemand, dass sie ihn aufgehoben hatte. „Daran ist nur der Rittmeister schuld!“, stieß sie entschuldigend hervor.

 



Am nächsten Morgen war der verschwundene Beutel Stadtgespräch. Und einen gab es, der besonders laut davon sprach, das war derjenige, der den Beutel verloren hatte: der Pfarrer von Sankt Peter. Das viele Geld war ein Geschenk an seine Kirche gewesen, das Vermögen einer alten Frau an seinen Sprengel. Einer armen alten Frau, hätte jedermann noch vor ein paar Tagen gesagt, denn alle, die diese Frau kannten, hatten sie für arm gehalten. War sie unterwegs, so war sie stets ärmlich gekleidet, und ihre Wohnung befand sich in einer engen und schmutzigen Gasse, in der sich nach Einbruch der Dunkelheit viel lichtscheues Gesindel herumtrieb. Nicht die Gegend, in der man ein kleines Vermögen vermutet hätte. Und doch hatte es eines gegeben, das die Frau über Jahrzehnte zusammengetragen und nun der Kirche vermacht hatte. Ein Bote hatte dem Pfarrer das großzügige Geschenk überbracht, und dabei, so hieß es, war offensichtlich ein Missgeschick geschehen und der Beutel war verschwunden. Wer die Schuld daran trug, war unklar, aber auch wenn der Pfarrer und der Bote sich gegenseitig die Schuld zuschoben, so brachte das den Beutel doch nicht zurück. Irgend ein Unbekannter hatte ihn genommen. Hatte ihn dem Herrgott gestohlen, wie der Pfarrer es nannte. Nur wer diese verabscheuungswürdige Tat begangen hatte, das wusste außer dem Dieb allen Spekulationen zum Trotz niemand.

 

Bis auf Jacques Guillaume Thouret, den Seidenfabrikanten, einen der reichsten Bürger Berlins. Der aber schwieg, und das nicht etwa aus Sympathie für den Dieb oder aufgrund einer mangelnden Wertschätzung des Rechts, sondern allein deshalb, weil genau zu diesem Zeitpunkt etwas anderes eine weit wichtigere Rolle in seinem Leben spielte: der Umstand, dass er dabei war, auf der Leiter seines Erfolges eine neue Sprosse zu erklimmen. Wobei er es mit der gegenwärtigen Sprosse allerdings auch schon recht weit gebracht hatte. Monsieur Thouret war der Enkel eines jener rund 20.000 Hugenotten, die als Glaubensflüchtlinge aus Frankreich vom Kurfürsten Friedrich Wilhelm im Jahr 1685 nach Brandenburg-Preußen eingeladen worden 

waren und von denen jeder dritte in Berlin eine neue Heimat gefunden hatte. Seine alte Heimat und die seiner Familie war Lyon gewesen, die Stadt, mit der jenes Gewerbe auf das engste verbunden war, mit dem er es in Berlin zu Erfolg und Ansehen gebracht hatte: die Herstellung von Seide. Lyon war die Seidenweberstadt schlechthin, und weil auch die brandenburgisch-preußischen Herrscher der Begeisterung für dieses edle Material verfallen waren, hatten sie sich für die besten Arbeitsmöglichkeiten für alle in diesem Gewerbe Tätigen eingesetzt. Insbesondere der gegenwärtige König Friedrich hatte sich seit seinem Amtsantritt für sie stark gemacht. Auf Maulbeerplantagen in Berlin wurden die Seidenraupen für das Rohmaterial gezüchtet, das von tüchtigen Spinnern und Webern zu fantasievollen Stoffen verarbeitet wurde, von denen viele als Wandbespannungen und Möbelbezüge die königlichen Gemächer zierten. Seidenmanufakturen gab es inzwischen mehrere an der Spree - die von Cuissart und Girard etwa und eben auch die von Monsieur Thouret -, und auch die Palette der Muster war breit. Doch stand die Kunstfertigkeit der Berliner Produktion der französischen trotz aller Erfolge noch immer nach, weshalb der König sich zunehmend ungnädig zeigte und von seinen Untertanen Verbesserungen verlangte. Und genau das war der Grund, weshalb Monsieur Thouret sich auf den Weg nach Dresden machen wollte, wo er einen der besten, dort für einige Wochen anwesenden Seidenweber aus Lyon zu treffen gedachte. Von ihm erhoffte er sich Auskünfte über neue Muster und die neuesten Produktionstechniken, deren Übernahme in seine eigene Manufaktur ihm einen Vorteil gegenüber seinen Konkurrenten verschaffen sollte. Alles stand zur Abreise bereit, die Fahrt sollte in Kürze beginnen, und um sich Glück für seine Reise zu erbitten, war Monsieur Thouret am Vorabend noch für ein letztes Gebet in Sankt Peter gewesen. Und bei diesem Besuch hatte er beobachtet, wie eine Frau einen Beutel aufgehoben hatte, ohne Zweifel jenes Exemplar, von dem in Berlin die Rede war. Doch während man in der Stadt noch rätselte, wo sich das Gesuchte befand, da wusste er vollständig Bescheid. Denn nicht nur hatte er die Frau beobachtet, er 



hatte sie auch erkannt. Und das nicht zufällig, hatte er sie doch bereits mehrmals in der Nähe seines Hauses gesehen, wie sie zu einer kurzen Begegnung mit ihrer Tochter zusammengetroffen war. Einer jungen Frau namens Elsa, die seit einigen Monaten bei ihm als Magd diente. Natürlich hätte er seine Magd auf den Diebstahl ansprechen können, auch hätte die Frage für ihn nahe gelegenen, ob eine Tochter, die eine Diebin zur Mutter hatte, nicht vielleicht selbst einen Hang zu Diebstählen besaß. Doch waren ihm solcherlei Fragen nicht gekommen, war er doch viel zu sehr mit den Plänen beschäftigt, die für seine persönliche Zukunft von so großer Bedeutung waren. Und so kam es, dass der einzige Mensch, der die Tischlersfrau hätte verraten können, den Mund hielt.

 

Am zweiten Tag nach dem Diebstahl begab Monsieur Thouret sich auf den Weg nach Dresden. Da seine Aufgaben in Berlin ihn eigentlich unabkömmlich machten, hatte er eine Postkutsche gewählt, die die Strecke in lediglich vier Tagen zurücklegen konnte. Danach eine Woche Aufenthalt an der Elbe, anschließend vier Tage zurück, womit er nach Ablauf von zwei Wochen wieder in Berlin eintraf. Mit sehr guten Ergebnissen, wie er fand. Nicht nur, dass er dem Seidenweber aus Lyon viele Informationen über neue Techniken hatte entlocken können und über ausgefallene Muster, die gerade als die aufregendsten am französischen Königshof galten - nein, wenn nichts dazwischen käme, würde dieser Mann sogar nach Berlin umsiedeln und ihn in seiner Manufaktur unterstützen. Natürlich würde die Konkurrenz ihn dafür hassen, aber so lief nun mal das Geschäft, nur so konnte man die Nummer eins am preußischen Hof werden. Lediglich eine Klippe zu diesem großen Erfolg galt es für ihn noch zu überwinden: Er musste dem König klarmachen, dass von allen Seidenherstellern Berlins die Manufaktur Thouret mit Abstand die beste war und dass der Hof deshalb gut daran täte, ihm auch die besten Aufträge zukommen zu lassen. Aber auch um das zu bewerkstelligen, hatte er sich längst eine Lösung überlegt. Eine Lösung mit dem Namen Rudolf von Schlieben,  

einem der Kammerjunker des Königs, den er bei einer Festivität kennengelernt hatte und von dem er wusste,  dass er bei Hofe in Geschmacksfragen einen wesentlichen Einfluss besaß. Insbesondere bei der Ausschmückung der Räumlichkeiten mit Wandbespannungen hatte er sich als ein Mann von sicherem Urteil erwiesen, dem der König vertraute. Was sich unter den Berliner Seidenherstellern längst herumgesprochen hatte, weshalb alle, die sich bei der Einrichtung der königlichen Schlösser ein Stück von dem Kuchen abschneiden wollten, sich um die Aufmerksamkeit dieses Kammerjunkers bemühten und eine Verabredung mit ihm denn auch keine einfache Sache war. Eine ganze Woche hatte Monsieur Thouret nach seiner Rückkehr warten müssen, bis sich eine Gelegenheit dazu fand, und das auch erst, nachdem er als Lockmittel Gerüchte über einige aufregende Erlebnisse auf seiner Reise gestreut hatte.

 

Es war ein lauer Abend, als der Kammerjunker im Haus des Seidenfabrikanten erschien. Nicht zu Fuß. Zwar hätte er die Strecke vom Schloss bis zu dessen Wohnsitz auch auf diese Weise zurücklegen können. Nur wäre das für einen wie ihn, der Umgang mit dem König pflegte, unter seiner Würde gewesen - jedenfalls empfand er es so -, weshalb er für den Weg einen Zweispänner benutzt hatte. Monsieur Thouret half ihm höchstselbst aus der Kutsche, dabei aufgeräumt verkündend, wie sehr er sich über den hohen Besuch geehrt fühle und wie inständig er hoffe, dem hochgeschätzten Kammerjunker ein paar angenehme Stunden bereiten zu können - „quelques heures agréables“ fügte er hinzu, und wechselte damit für den Rest des Abends ins Französische, die Sprache der europäischen Fürstenhöfe, die auch König Friedrich der Sprache seiner Untertanen vorzog. Was diese angenehmen Stunden betraf, so hatte sich Monsieur Thouret die allergrößte Mühe gegeben. Ein erlesenes Mahl aus mehreren Gängen erwartete den Gast - Flusshecht-Suppe, Krebse in Wein gekocht, Kalbspasteten, Hasenpfeffer und zum Abschluss Feigen und Datteln -, dazu gab es einen vorzüglichen Wein, den Monsieur Thouret dem 



Kammerjunker in gut dosierten Portionen zu verabreichen gedachte. Genug, um Redseligkeit und Offenheit bei ihm zu bewirken, jedoch nicht zu viel, auf dass sein Gast sich am nächsten Tag noch an getroffene Verabredungen erinnern würde. Und auch was die Bedienung bei Tisch anbelangte, hatte der Hausherr sich Gedanken gemacht, insofern als er die ältliche Magd, die diese Aufgabe schon seit vielen Jahren für ihn besorgte, für diesen Abend durch eine jüngere ersetzt hatte. Durch die gerade einmal 17 Jahre alte Elsa, die einen reizvolleren Anblick beim Auftragen der Speisen abgab. Was der Kammerjunker denn auch erkennbar zu schätzen wusste, ruhte sein Blick während des Essens doch wiederholt auf der jungen Frau, und das nicht nur mit dem gnädigen Wohlwollen einer höhergestellten Persönlichkeit als vielmehr mit einem von jeglicher Standeszugehörigkeit unabhängigen männlichen Interesse. „Délicieux“ sah die Magd Elsa aus, „zum Anbeißen“, wie er Monsieur Thouret mit einem anzüglichen Blick von Mann zu Mann erkennen ließ. Und „zum Anbeißen“ war die Magd Elsa in der Tat: Obwohl noch jung an Jahren, besaß ihr Körper alle Vorzüge einer reifen Frau. Kräftig und zugleich weich waren ihre Arme, die Hände schlank und ihre Bewegungen anmutig und nicht von jener unbeholfenen Plumpheit, die man bei Mägden nicht selten antreffen konnte. Die schmale Taille ging in wohlgeformte Hüften über, volle Brüste betonten ihre Weiblichkeit, und unter dunklem und leicht widerspenstigem Haar besaß sie ein hübsches Gesicht. Mit der gebotenen Zurückhaltung trug sie die Speisen auf und war die Aufmerksamkeit selbst, die keiner Aufforderung bedurfte, etwa wenn Wein nachgeschenkt werden sollte. Mit anderen Worten: Elsa war eine Bedienung, die als eine besondere Aufmerksamkeit des Monsieur Thouret für seinen Besucher die anderen Aufmerksamkeiten auf das Trefflichste ergänzte. Weshalb er denn auch darauf hoffen durfte, dass seine Pläne in bezug auf die Gestaltung der königlichen Gemächer an diesem Abend ein gutes Stück vorankommen würden.

 

Doch sie kamen nicht gut voran, was sich zeigte, als der Kammerjunker den von Monsieur Thouret nach dem üppigen Mahl vorgelegten Stoffmustern nicht jene Beachtung zuteil werden ließ, die dieser erhoffte. Mit mechanischen Bewegungen, ja beinahe gleichgültig drehte und wendete er die Stoffe und schien sie dabei nicht einmal richtig wahrzunehmen, sondern sprach über Dinge, auf die sich seine Gedanken tatsächlich konzentrierten. Als ein gescheiter Mann, der ein Ziel verfolgt, ging Monsieur Thouret auf alle diese Themen ein, versuchte seinen Gast dabei aber immer wieder auf die für ihn wichtigen Punkte zu lenken: auf die Stoffmuster, die am Hof in Versailles gerade ganz groß in Mode waren, dass seine Manufaktur als die einzige in Berlin deren Herstellung beherrschte und wie sehr diese Muster die Gemächer des Königs aufwerten würden. Zunächst ein mühsames Unterfangen, schließlich ein - so erschien es ihm jedenfalls - beinahe aussichtsloses, so dass er zu vorgerückter Stunde seine Felle schon davonschwimmen sah. Weshalb er in seiner Verzweiflung auf den Gedanken kam, die Magd Elsa als eine Art Geheimwaffe im Kampf um die ersehnten Aufträge einzusetzen, waren ihm die Blicke des Kammerjunkers auf sie doch nicht verborgen geblieben. Als dieser sich nach dem reichlichen Essen und Trinken einmal gezwungen sah, den Raum zu verlassen, um sich zu erleichtern, rief er Elsa zu sich: „Hör mir jetzt gut zu: Ich habe dich in meinem Haus aufgenommen, und ich habe dir während deines Aufenthalts meine Gunst erwiesen. Jetzt ist der Augenblick gekommen, an dem du dich dafür erkenntlich zeigen kannst. Ich möchte“ - er räusperte sich, da ihm trotz seiner Entschlossenheit die Worte nicht leicht über die Lippen kommen wollten - „ich möchte, dass du zu unserem Gast … nett bist. Dass du sehr nett zu ihm bist… Verstehst du, was ich meine?“ Elsa sah ihn aus großen Augen an, erkennbar völlig verwirrt angesichts dessen, was hier an sie herangetragen wurde. „Ich habe jetzt keine Zeit herumzureden“, fuhr Monsieur Thouret deshalb eilig fort. „Ich habe deine Mutter beobachtet, wie sie in Sankt Peter den Beutel gestohlen hat, von dem in



der Stadt die Rede ist. Sie weiß nicht, dass ich sie gesehen habe, aber es ist so, wie ich es sage. Sollte ihr Diebstahl bekannt werden, so bedeutet das ihren sicheren Tod.“

 

Elsa stand wie angewurzelt da und starrte ihren Herrn an. Alles, was er soeben gesagt hatte, war neu für sie und kam völlig überraschend, doch als sie es verstand, fügte es sich zu einem Bild: zum Bild einer Erpressung! Monsieur Thouret erpresste sie, denn nichts anderes war es, was er hier tat! Von dem verschwundenen Beutel wusste sie, nur dass ihre Mutter damit zu tun haben könnte, auf diesen Gedanken wäre sie niemals gekommen. Gewiss, sie hatte sich in den letzten Wochen wiederholt gefragt, wie ihre Eltern nach dem Vorfall mit dem Rittmeister so gut über die Runden kommen konnten, aber natürlich hatte sie das nicht mit dem Beutel in Verbindung gebracht. Wenn es stimmte, was ihr Herr sagte - und daran zweifelte sie nicht -, dann hatte er ihre Mutter tatsächlich in der Hand. Und damit auch sie selbst, denn dass man ihre Mutter wegen eines Diebstahls hinrichten würde, das konnte sie nicht zulassen. Um nichts auf der Welt! Nur - was war der Preis dafür? „Nett sein“, sollte sie zu dem Kammerjunker, hatte ihr Herr gesagt. Zu diesem eingebildeten, blasierten Kerl, der sich wegen seiner Stellung am Hof für den Nabel der Welt hielt und sich nicht im geringsten gescheut hatte, sie immer wieder anzusehen. Oder was der Wahrheit viel eher entsprach: sie lüstern anzuglotzen. Und zu dem sollte sie „nett sein“ … Schritte auf der Treppe machten deutlich, dass der Gast auf dem Rückweg war. „Ich verlasse mich auf dich“, beeilte sich Monsieur Thouret noch zu Elsa zu sagen. „Denk an deine …“ Weiter kam er nicht, denn die Tür wurde geöffnet, und der Kammerjunker trat in den Raum. Elsa starrte ihn an, was er - ohne zu ahnen, worum es ging - mit einem Blick quittierte, der ihr noch aufdringlicher erschien. ‚Sei nett zu ihm!‘, tönte es in ihren Ohren. ‚Sei nett!‘ Was das hieß, darüber machte sie sich keine falschen Vorstellungen. Auch wenn sie mit Männern bis dahin noch nicht ernstlich zu tun gehabt hatte, so wusste sie doch so manches über sie. Das Verhältnis zwischen Männern und Frauen war ein beliebtes Thema, 

wenn Mägde unter sich waren. Zweifellos war es genau das, was Monsieur Thouret meinte.

 

„Ich werde Euch jetzt verlassen, mein lieber Monsieur“, unterbrach der Kammerjunker ihre Gedanken, dabei wieder ins Deutsche wechselnd. „Im Schloss werden Sie mich bereits ungeduldig zurückerwarten. Viele wichtige Aufgaben … Ihr versteht?“ Er hatte sich gar nicht mehr gesetzt, sondern war gleich stehen geblieben, und deshalb erhob sich nun auch Monsieur Thouret von seinem Platz. Die Stoffmuster lagen nach wie vor auf dem Tisch. Mehrere davon hatte der Gast noch nicht einmal angesehen, und auch in diesem Moment beachtete er sie nicht. Säuerlich verzog Monsieur Thouret das Gesicht. Was für ein ungehobelter Mensch, dachte er, der so taktlos verschmähte, was er, der erste unter den Berliner Seidenwebern, als seinen ganzen Stolz von der Reise nach Dresden mitgebracht hatte! Doch sollte der Kammerjunker angenommen haben, die Angelegenheit sei damit erledigt, so hatte er sich geirrt. So schnell gab ein Jacques Guillaume Thouret nicht auf! „Ich werde Euch diese wundervollen Muster ins Schloss schicken“, sagte er zu seinem Gast. „Dort werdet Ihr Muße haben, sie noch einmal in aller Ruhe zu bewundern. Denn wie ich schon ausführte: Es sind die neusten Entwürfe, die man gegenwärtig in Lyon für den französischen Hof komponiert hat.“ Und auf Elsa deutend, fügte er hinzu: „Meine Magd wird  Euch die Muster bringen. Ihr könnt sie dann in ihrer Gegenwart noch einmal in aller Ruhe bestaunen.“ Worauf der Kammerjunker seine Blicke ein weiteres Mal über Elsa wandern ließ. Und dazu leckte er sich - bewusst oder unbewusst - über die Lippen. „C’est bon pour moi“, entgegnete er. „Das ist mir recht.“ Mit dem Austausch der üblichen Höflichkeiten und der Versicherung, man sehe einem erneuten Zusammentreffen mit Freuden entgegen, verabschiedeten sich die beiden Männer voneinander. „Bis bald im Schloss, mein Kind“, sagte der Kammerjunker noch zu Elsa und legte ihr dabei die Hand auf die Schulter. Sie antwortete mit einem Knicks, wie es sich gehörte, und senkte ergeben den Blick. Und dabei hatte sie das Gefühl, dass die Hand auf ihrer Schulter sie verbrannte.