6. Kapitel

 

(Frühsommer 1748, unterwegs und in Berlin) 

 

 

Das Reich des deutschen Kaisers glich einem Flickenteppich. So wie sich ein solcher Teppich aus vielen kleinen und großen Stoffstücken zusammensetzt, so setzte sich das Reich aus vielen Ländern von unterschiedlicher Größe zusammen. Mehr als 300 waren es, in denen teils weltliche und teils geistliche Herren die Macht hatten. Zwischen Königreichen auf der einen Seite und den Besitztümern kleiner Reichsritter auf der anderen, die mitunter gerade einmal aus ein paar armseligen Dörfern bestanden, drängten sich Fürstentümer und Grafschaften, Herzogtümer, Abteien und freie Reichsstädte. Herrschaften, die sich in vielerlei Hinsicht voneinander unterschieden, die eines aber alle gemein hatten: Wer ihr Land durchqueren wollte, musste Zoll zahlen. Und um den einzutreiben und zu verhindern, dass sich jemand klammheimlich durch ihr Land stahl, hatten dessen Herren Wachen an ihren Grenzen postiert. Männer mit Waffen, die keinen Spaß verstanden und die sich nicht scheuen würden, gegebenenfalls Gebrauch davon zu machen. Die Folge war, dass das Reisen von einem Teil des Reiches in einen anderen eine kostspielige Angelegenheit sein konnte. Was besonders dann schlimm war, wenn sich ein Landesherr in akuter Geldnot befand. In diesem Fall kam ihm ein Haufen herumziehender Kolonisten gerade recht.

 

Ein solcher Herr war es denn auch, dessen Land - oder zutreffender: dessen Ländchen - die Auswanderer am achten Tag ihrer Reise erreichten. Und dabei hatten sie gerade an diesem Tag schon genug Unerfreuliches erlebt. Zuerst ein Sturm in der Nacht, der ihre Wagen kräftig durchgerüttelt hatte, gegen Morgen ein von einem Baum abgebrochener Ast, durch den ein Kind verletzt worden war, wenige Stunden später ein Radbruch an einem Wagen, und nun kam also auch noch der in Geldnöten steckende Landesherr dazu. Fünf grobschlächtige Halunken, die in seinem Sold standen, aber ebenso gut Räuber hätten sein können, lungerten an der Grenze herum. Kaum hatten sie die Kolonisten erspäht, als auch schon drei von ihnen sich quer über der Straße verteilten und dem Zug die Weiterreise versperrten. In den Händen hielten sie lange Spieße mit

unheilverheißenden Spitzen, in ihren Gürteln steckten Schwerter und Messer, und jeder dieser Männer sah aus, als würde er ohne Skrupel von dem Mordwerkzeug Gebrauch machen. „Halt!“, befahl einer, offensichtlich der Hauptmann des kleinen Trupps, noch bevor der Zug die drei Männer erreicht hatte. Mit einem Ruck kamen die Wagen zum Stehen. „Wir wollen das Land deines Herrn durchqueren“, richtete einer der Führer das Wort an den Hauptmann, genau so wie er es bei einer früheren Reise mit Kolonisten an dieser Stelle schon einmal getan hatte und worauf seinerzeit ein „Dafür müsst ihr bezahlen“ und eine Zahl gefolgt waren. Diesmal indes bestand die Antwort aus einem höhnischen Grinsen und vielsagenden Blicken, die die Männer des Hauptmanns einander zuwarfen. Zwei von ihnen hockten noch immer an Bäume gelehnt auf der Erde, einer davon wühlte mit den Händen in einem Hasen, den er offenbar erst vor kurzem erlegt hatte. Seine Hände waren blutverschmiert, und als er sie herauszog, hielt er sie so, dass die Führer sie sehen konnten. Eine Drohung.

 

„So so, Ihr wollt also das Land des hochedlen Ritters Arnold von Eck durchqueren“, ließ sich der Hauptmann vernehmen. „Unser Auftrag ist es, die Grenze seines Landes zu schützen. Dreißig Taler, und ihr dürft passieren.“ Er blickte seine Kumpane an und grinste. Diese grinsten ebenfalls, einer rief „Dreißig süße kleine Talerchen!“ - „Das ist zu viel“, antwortete der Führer. „Wir kennen das Land eures Herrn. Es ist nicht so groß, dass eine solche Summe angemessen wäre.“ Doch er hätte ebenso gut in den Wind sprechen können, denn der vor ihm Stehende wiederholte die Forderung und diesmal knapper und nachdrücklicher als beim ersten Mal: „Dreißig Taler!“ Die beiden Führer wechselten ein paar leise Worte miteinander und wendeten ihre Pferde dann zu den Kolonisten. Einige von den Männern hatten sich inzwischen nach vorn gedrängt, um zu sehen, was geschah, andere standen weiter enfernt und versuchten, dem Wortwechsel zu folgen. Ihre Frauen und Kinder hatten sie in den Wagen in Sicherheit gebracht. Dass es Ärger geben würde, war nicht zu übersehen.

 



„Man fordert dreißig Taler für die Durchreise“, rief der eine Führer den Kolonisten zu. Die Antwort kam, kaum dass er ausgesprochen hatte: „Das können wir nicht bezahlen!“, rief einer, und zwei andere gleichzeitig: „Das ist zu viel!“ - „Ihr habt es gehört“, wandte sich der Führer wieder an den Hauptmann. „Wir bieten euch drei Taler, das ist für euer Land ein angemessener Zoll.“ Das Grinsen verschwand aus dem Gesicht des Hauptmanns, und er begann zu lachen, laut und schallend, und seine Kumpane stimmten mit ein. Gleich darauf veränderte sich seine Miene, und er machte ein paar Schritte auf den Führer zu. „Sieh dich vor, Kerl! Noch ein solches Angebot, und mit dreißig Talern ist es nicht getan!“ Obwohl sein Tonfall verriet, dass er es ernst meinte, nahm der Führer einen Beutel aus seiner Satteltasche, zählte drei Taler ab und warf sie dem Hauptmann vor die Füße. Der war für einen Augenblick sprachlos. „Du scheinst mich nicht verstanden zu haben“, zischte er und zielte mit dem Spieß auf sein Gegenüber. "Fünf Taler“, entgegnete dieser. „Mein letztes Angebot.“ - „Oho, was für ein furchtloser Bursche du doch bist!“, höhnte der Hauptmann. „Hast den Spieß vor der Nase und willst feilschen.“

 

Die beiden Führer nickten einander kaum merklich zu. Bevor sie vor ein paar Tagen aufgebrochen waren, hatten sie mit den Kolonisten über eine solche Situation gesprochen. In der Regel ging es an der Grenze eines Landes harmlos zu: Geld wechselte den Besitzer, und dafür erhielt man die Erlaubnis zur Durchreise. Gelegentlich aber gab es - so wie in diesem Fall - Herren, die mehr aus den Reisenden herausholen wollten, und in einem solchen Fall mussten sich die Reisenden einig über ihre Reaktion sein. „Wir haben einen angemessenen Preis für die Durchreise bezahlt“, wandte sich der Führer an die Kolonisten. „Damit ist das Recht auf unserer Seite. Wenn man uns hindern will, werden wir unser Recht durchsetzen.“

 

Allgemeine Zustimmung antwortete ihm, auch wenn jedermann Angst hatte. Sie alle waren keine Krieger, sie konnten mit Ackergerät und ihrem Werkzeug umgehen, nicht aber mit Waffen. Doch wenn es sein musste, würden sie sich ihrer Haut wehren. Und so hielten die Männer denn auch nur wenige Augenblicke später alles in den Händen, was sich als Waffe einsetzen ließ: Mistgabel und Spaten, Dreschflegel und Äxte und der Böttcher neben einem hölzernen Prügel von erstaunlichen Ausmaßen auch noch seinen Hammer. Zu beiden Seiten der Wagen stellten sie sich auf, während die Frauen sich auf die Kutschböcke setzten und die Zügel der Pferde ergriffen. „Überlegt es euch!“, forderte der Führer die Bewaffneten auf. „Wir haben Zoll bezahlt, also gebt den Weg frei!“ Der Hauptmann knirschte mit den Zähnen. „Dreißig Taler, oder es fließt Blut!“ Er hatte noch nicht ausgesprochen, da hielten die beiden Führer ihre Schwerter in den Händen, und die Frauen hoben die Peitschen. Jeden Augenblick konnte der Zug sich in Bewegung setzen. Wutentbrannt griff der Hauptmann dem Pferd des Führers in die Zügel, worauf dieser mit dem Schwert auf ihn zielte. Dann ging alles so schnell, dass ein Beobachter glatt den Eindruck hätte gewinnen können, alles geschehe gleichzeitig. Indem der Hauptmann die Zügel fallen ließ, wich er dem Schwert aus und riss gleichzeitig seinen Spieß hoch, den der Führer ihm mit einer blitzschnellen Bewegung entwand, was den Hauptmann verdutzt dastehen ließ. Im selben Moment stürmten die Kolonisten auch schon alle auf einmal nach vorn, und da sie in deutlicher Überzahl waren und mit ihren „Waffen“ so wild herumfuchtelten, als wollten sie Löcher in die Luft schneiden, dauerte es nur kurz, bis die Männer des Hauptmanns am Boden lagen und kräftige Hände sie niederdrückten. Gleich darauf lag auch er selbst daneben. Drei Kolonisten hatten bei der Attacke kleinere Wunden davongetragen, einer der Bewaffneten blutete am Arm und stöhnte, der Hauptmann bewegte sich nicht mehr. Ob er tot war oder nur ohnmächtig, ließ sich auf den ersten Blick nicht erkennen. Der Hammer



des Böttchers hatte ihn getroffen, kein Schlag, sondern ein gut gezielter Wurf. Eine Kunstfertigkeit, die dem Böttcher auf den heimatlichen Dorffesten stets viel Anerkennung eingebracht hatte. „Legt ihnen Fesseln an!“, forderten die Führer die Kolonisten auf. „Wir nehmen sie in unseren Wagen mit. Wenn wir ihr Land wieder verlassen, legen wir sie an der Grenze ab. Bis dahin werden sie uns als Geiseln dienen, sollten andere uns Schwierigkeiten machen wollen.“

 

Wie gesagt, so geschah es. Dass der Hauptmann nicht tot, sondern nur ohnmächtig war, stellte sich wenig später heraus. Kaum hatte er das Bewusstsein wiedererlangt, wollte er aufspringen, doch die Fesseln hielten ihn in Schach. Er begann zu fluchen, und als seine Flüche immer lauter wurden, stopfte ihm einer der Kolonisten einen Knebel in den Mund. Fest mit Stricken verschnürt, lag er nun neben seinen Leuten in einem Wagen, und der Zug konnte seinen Weg fortsetzen. Unbehelligt gelangten die Kolonisten an das andere Ende des Ländchens, wo sie wie angekündigt die Männer des „hochedlen Ritters Arnold von Eck“ neben der Landstraße ablegten. Irgendjemand würde sie finden, und dann könnten sie ihrem Herrn davon berichten, wie ein übermächtiger Feind sie nach einem heftigen Kampf durch einen unglücklichen Zufall besiegt hatte oder welche Heldentaten sie sich bis dahin auch immer ausdenken mochten.

 

Die Einreise in das nächste Land auf dem großen Flickenteppich des Reiches ging problemlos vonstatten. Nachdem sie den Zoll entrichtet hatten, gaben ihnen die Grenzwächter sogar noch ein „Gute Weiterreise!“ mit auf den Weg. Da die Landschaft überwiegend flach war und die Straßen über weite Strecken in gutem Zustand, kamen die Kolonisten zügig voran. Vom frühen Morgen bis zum späten Abend waren sie auf den Beinen, danach gab es ein paar Stunden Schlaf, und noch bevor die Sonne wieder in den Himmel stieg, ging es weiter. Ärger an Grenzen gab es nicht mehr, auch keine weiteren Rad- oder Achsenbrüche oder Unfälle, und selbst das Wetter meinte es gut mit 

ihnen. Langsam, aber unaufhaltsam näherte sich der Zug seinem Ziel. Einem Ziel, das noch immer keinen Namen für die Auswanderer hatte, ebenso wie die vielen anderen Orte auf ihrer Reise. Nur einmal gab es eine Stadt, deren Namen sie kannten, und das schon seit dem Tag, als sie sich auf den Weg gemacht hatten. Es war die Stadt des Preußenkönigs, dessen Landeskinder sie nun bald sein würden: Berlin.

 

Vor dem Tor mussten sie warten, als ein Trupp Soldaten in Marschordnung die Stadt verließ. Ein beeindruckender Anblick war das, hochgewachsene Kerle in schmucken Uniformen, auf die der König gewiss sehr stolz war. Nachdem die Soldaten vorbei waren, drängten sich ein paar Marktweiber nach vorn. Sie trugen Kiepen mit Zwiebeln und Mohrrüben auf dem Rücken, andere schleppten geflochtene Körbe mit Hühnern und Enten. Schließlich waren die Kolonisten an der Reihe, nachdem die Führer mit den Torwächtern gesprochen hatten. Viel mussten sie denen nicht erklären. Bereits seit geraumer Zeit erschienen Züge von Kolonisten in der Stadt, die der König ins Land gerufen hatte und die einige Tage hier blieben, bevor seine Beamten ihnen ihre Bestimmungsorte zuwiesen.

 

Adam stieß Jakob an. „Was für eine große Stadt!“, staunte er und reckte den Hals. „So viele Menschen und so hohe Häuser! In manchen leben bestimmt mehr Menschen als in unserem ganzen Dorf. Und sieh nur, wie viele solcher Häuser es gibt!“ Auch Jakob war beeindruckt, ebenso wie Clara, die nur noch wenig auf die Zügel ihres Pferdes achtete und dafür weit mehr auf all das Aufregende um sie herum. Erst der Fluch eines Mannes, den sie beinahe umgefahren hätte, erinnerte sie wieder an ihre Aufgabe. Doch anstatt sich bei dem Mann zu entschuldigen, brachte sie nur unzusammenhängendes Gestammel hervor, was ihr Gegenüber mit einem verächtlichen „Dummes Bauernvolk!“ quittierte. Was für ein Unterschied zu den Dörfern, aus denen sie stammten! Aber in dieser Stadt saß ja auch der König eines großen und bedeutenden Landes, und wo der König seinen Sitz hatte, da war alles natürlich ganz



anders als auf einem Dorf. Auch sein Schloss sahen sie schließlich, das größte und prächtigste von allen Gebäuden. Hätten sie seine Bauteile benennen können, dann hätten sie von durchfensterten Risaliten und Hermenpilastern gesprochen, von Arkanthusblättern an den Kapitelen und Skulpturenreihen auf dem Dach, doch sie verfügten über keine Namen für all diese Wunder, die offenbar von den bedeutendsten Baumeistern geschaffen worden waren. Diese Welt ließ sich nicht einfach mit Begriffen wie groß oder klein und mit gerade oder eckig beschreiben. Hier brauchte es Begriffe, die es im Leben einfacher Bauersleute nicht gab.

 

Vor der erst kürzlich fertiggestellten Oper stockte der Zug. Natürlich wussten die Kolonisten auch nicht, dass es sich um eine Oper handelte, und selbst wenn es ihnen jemand gesagt hätte - was war eine Oper? Zwischen all diesen großartigen Gebäuden liefen Männer und Frauen einzeln oder in Gruppen umher, nicht eiligen Schrittes auf dem Weg zur Arbeit, denn Menschen wie diese brauchten nicht zu arbeiten, da waren sich die Kolonisten ganz sicher. Was notwendig war, erledigten andere für sie. Weshalb sie auch Kleider trugen, mit denen sie unmöglich aufs Feld gehen konnten oder gar zum Ausmisten in den Stall. Mehr noch als die Männer zogen die Frauen die Blicke auf sich, üppig fallende Stoffe in erlesenen Farben, die die natürliche Anmut der Frauen noch um ein Vielfaches verstärkten. Manch einer der Kolonistinnen stand der Mund offen angesichts all dieser Schönheit, wo sie doch selber nur Kleider aus grobem Stoff trugen, vielfach geflickt und mit Flecken, die kein Waschen mehr herausbringen konnte. Als ein Junge mit einem übervoll mit Äpfeln beladenen Hundekarren gegen eine Kutsche stieß und zahllose Äpfel über die Straße rollten, was die Kolonisten zum Anhalten zwang, war niemand von ihnen böse darüber. Erhielten sie dadurch doch die Gelegenheit, die fremdartige Welt noch ein wenig länger zu betrachten.

 

An zwei prächtigen Kirchen vorbei und durch Straßen mit stolzen Bürgerhäusern zogen die Auswanderer, doch irgendwann änderte sich das Bild. Je weiter sie sich von dem Schloss, der Oper und den anderen großartigen Gebäuden entfernten, um so kleiner und ärmlicher wurden die Häuser. Die Wege zwischen ihnen waren nicht mehr so gut ausgebaut und mit Steinen befestigt, stattdessen handelte es sich um ausgefahrene, mit tiefen Rillen versehene und nur notdürftig geflickte Sandwege, so dass die Kolonisten sich schon zu fragen begannen, ob sie vielleicht ohne es zu bemerken in eine andere Stadt geraten waren. Hierher kam der König gewiss nicht hin und vermutlich auch keiner seiner Höflinge und Beamten. Abwässer bildeten Pfützen, überall lagen Abfälle herum, darunter Lumpen, zerbrochenes Geschirr und die Überreste von Mahlzeiten. Neben einer toten Katze spielten halbnackte Kinder. Und über allem lag ein Gestank, der an warmen Tagen wohl nur schwer erträglich sein würde.

 

Eine Frau schüttete den Inhalt eines Nachttopfs aus dem Fenster auf die Straße und traf die Plane von Peter Bremms Wagen. War der Frau ein Versehen unterlaufen oder war es Absicht gewesen, fragte sich Jakob, der den Vorfall beobachtet hatte. Noch im selben Moment erhielt er die Antwort, als die Frau sich weit aus dem Fenster lehnte und lachte. Peter Bremm wollte sie zur Rede stellen, aber die Führer forderten ihn zur Zurückhaltung auf. In diesem Teil der Stadt gab es Menschen, die nur darauf warteten, sich mit Fremden anlegen zu können. „Wer hier leben will“, wandte sich Jakob an Adam, „der muss gewiss einiges lernen, um unbehelligt über die Runden zu kommen.“ Am Vortag hatten sie zufällig ein Gepräch zwischen den beiden Führern mitangehört. In Berlin, so hatte der eine zu dem anderen gesagt, lebe ein Menschenschlag, bei dem müsse man Haare auf den Zähnen haben und mitunter etwas grob sein, um sich über Wasser zu halten. Nein, dachte Adam, vielleicht war eine solche Stadt ja etwas für andere Leute. Für



ihn wäre das alles viel zu groß. Einer wie er gehörte in ein Dorf.

 

Auf einer Wiese an einem Fluss - er hieß Spree, erfuhren die Kolonisten - machten die Wagen Halt. Das Gelände war von mehreren aus Brettern grob zusammengezimmerten Häusern begrenzt und von einer Reihe krüppeliger Bäume durchzogen, die von der Straße zum Fluss führten. Ein paar Lastkähne dümpelten im Fluss. Wie es aussah, warteten sie darauf, an einer Anlegestelle ihre Ladung zu löschen. Das Aufstellen der Wagen und das Einrichten für die Nacht geschah auf eine Weise, die den Kolonisten längst zur Routine geworden war. Auf diesem Platz, so hatten ihnen die Führer mitgeteilt, würden sie mehrere Tage warten, bis man ihnen ihr endgütiges Ziel zuweisen würde. Eine Nachricht, die von einigen mit Stirnrunzeln aufgenommen wurde, sehnten sie sich doch danach, nun endlich ihre neue Heimat kennenzulernen. Die meisten dagegen nahmen die Verzögerung erfreut zur Kenntnis, konnten sie doch nach den Anstrengungen der vergangenen Wochen ein wenig Erholung gut brauchen. Fast alle aber hatten beschlossen, die Wartezeit zu nutzen, um die Stadt zu erkunden, in der es so viel zu sehen gab. Und weil der Tag noch nicht zuende war, machten sich die Neugierigsten von ihnen sogar schon bald auf den Weg. Keiner allein, sondern alle in Gruppen kehrten sie zu der Straße zurück und wählten, um sich in dem Gewirr der vielen Straßen und Gassen nicht zu verlaufen, denselben Weg, auf dem sie gekommen waren. Clara hatte sich einer der Gruppen angeschlossen, während Adam und Jakob sich entschieden hatten, ihren Besuch in der Stadt auf den nächsten Tag zu verschieben. „Lass uns zum Fluss gehen“, sagte Adam, und Jakob stimmte zu.

 

Wer die Frau als Erster entdeckte, ließ sich später nicht mehr rekonstruieren. Jakob meinte, er sei es gewesen, die Kleider zwischen den Bäumen seien ihm sofort aufgefallen, während Adam die Ansicht vertrat, Kleider seien Kleider und keine Menschen, und dass jemand in

ihnen stecke, das habe er als erster erkannt. Kein Thema allerdings, um das sie stritten, viel eher ein launiges Hin und Her über die Beziehung zu der jungen Frau aus Berlin, die an diesem Tag ihren Anfang genommen hatte. Dass sie unter den Kleidern nicht sofort zu entdecken war, ging darauf zurück, dass sie versteckt im Gras lag, die Beine dicht angezogen, den Kopf weit auf der Brust, so dass der Stoff sie fremden Blicken weitgehend entzog. Eine Frau, die sich in sich selbst zurückgezogen hatte wie eine Schnecke in ihr Haus, und die viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt war, als dass sie ihr Umfeld wahrgenommen hätte. Selbst als Jakob und Adam neben ihr stehenblieben und sie ansprachen, ob ihr etwas zugestoßen sei und sie ihr helfen könnten, antwortete sie nicht. Drei Mal wiederholten sie ihre Frage, bis die Frau den Kopf ein wenig hob und sie ansah. „Es geht mir gut“, sagte sie leise. Eine Aussage, die in rechtem Widerspruch stand zu ihrer brüchigen Stimme und den tränenverschleierten Augen. Ihr Gesicht war vom Weinen gerötet und hätte jedem Schauspieler, der in einer Szene abgrundtiefen Kummer hätte darstellen sollen, zur Ehre gereicht. Nur war dies kein Schauspiel, dies war das Leben. Und nach der Verzweiflung zu urteilen, die in dem Verhalten der jungen Frau lag, musste ihr etwas Schlimmes widerfahren sein.

 

Adam deutete zum Wasser hin, was soviel bedeuten sollte wie: „Lassen wir sie in Ruhe, offenbar will sie allein sein“, doch Jakob winkte ab. Statt weiterzugehen, ließ er sich neben der Frau im Gras nieder und begann, mit sanfter Stimme auf sie einzureden, so wie seine Mutter das früher bei ihm getan hatte, wenn er sehr traurig war. Dass die junge Frau Elsa hieß, erfuhr er noch recht schnell, anders als den Grund für ihre schlechte Verfassung, der ihn eigentlich auch gar nichts anging. Doch etwas in ihm fühlte sich zum Reden gedrängt, und tatsächlich schaffte er es, dass Elsa sich irgendwann aufsetzte und zu sprechen begann. Jacob wünschte sich Clara an seiner Stelle, die für ein Gespräch mit der Frau weit geeigneter gewesen wäre als er. Nur war  



Clara nicht da, also waren er und Adam gefordert. Jawohl, gab sie zu, es gehe ihr schlecht, aber nein, das habe nichts mit ihren Eltern zu tun, auch nicht mit einem jungen Mann, der ihrem Herzen womöglich ein Leid angetan hätte und auch mit all dem Üblichen nicht, was sich jeden Tag tausend Mal im Leben von Menschen ereignet. Worte, die so nebulös klangen, dass neben dem anfänglichen Mitleid jetzt auch die Neugier in Jakob geweckt war und auch in Adam, der sich nun ebenfalls ins Gras setzte. Elsa rang mit sich. Zwar kannte sie die Fremden nicht, und noch dazu handelte es sich um Männer und nicht um Frauen, denen sie sich leichter offenbart hätte. Doch irgendetwas in ihr drängte danach, sich mitzuteilen, weil es ihr danach vielleicht besser gehen würde. Und falls nicht, so wäre dadurch ja auch nichts Schlimmes geschehen. Die beiden waren Fremde auf der Durchreise, wie ihre Wagen erkennen ließen, die binnen kurzem schon wieder weitergezogen sein würden.

 

Und so fing sie denn zu sprechen an, zunächst mit vielen Auslassungen und weitgehend in Rätseln. Doch da Jakob nicht nur ein geduldiger Zuhörer war, sondern auch geschickt zu fragen verstand, offenbarte Elsa nach und nach immer mehr, welch schwere Last auf ihr lag. Dass ihr Brotherr sie zwang, zu einem anderen Mann „nett zu sein“, und das sogar wiederholt, dass ihr dieses „Nett-sein“ zutiefst zuwider sei und sie verletze, und dass die Angelegenheit erst dann ein Ende finden werde, wenn dieser Mann sich entscheiden würde, von ihr zu lassen. Jakob und Adam waren entsetzt, brachten aber sehr schnell die naheliegende Frage ins Spiel, warum Elsa sich gegen diese widerwärtige Anmutung nicht zur Wehr setze. Worauf eine lange Pause entstand, bis Elsa schließlich mit einem kaum hörbaren „Ich werde erpresst“ antwortete. Keine ausreichende Antwort für die beiden, weshalb  sie nachfragten, bis sie auch auf diese Frage eine Antwort erhalten hatten. Keine vollständige, denn was Elsas Mutter getan hatte, war gar zu schlimm. Dennoch reichte es aus, dass sie das Wesentliche 

verstanden. „Aber ihr dürft mich nicht verraten“, stieß Elsa angstvoll hervor, nachdem ihr gänzlich bewusst geworden war, was sie den beiden gerade anvertraut hatte. Jakob und Adam schüttelten beide gleichzeitig den Kopf, und sie taten das so entschieden, dass Elsa sich wieder besser fühlte. Zumindest bis sie begriffen hatte, dass sie sich zwar ihre Sorgen von der Seele geredet hatte, ihre Situation aber unverändert geblieben war. Denn wie um alles in der Welt sollten diese beiden Männer ihr helfen?

 

Schweigend saßen die Drei eine Weile zusammen, jeder den Kopf voller Gedanken. Als eine Turmuhr schlug, schreckte Elsa auf. Wie schnell doch die Zeit vergangen war! So viel hatte sie gesagt, doch nun ging das Leben weiter. Schwerfällig stand sie auf, als wollte eine Kraft sie auf der Erde festhalten. „Danke, dass ihr mir zugehört habt“, sagte sie leise und schickte sich zu gehen an, während Adam danach suchte, ihr ein paar tröstende Worte auf den Weg mitzugeben. Für Jakob dagegen war die Angelegenheit noch nicht erledigt. „Was hältst du von dem Gedanken, eure Stadt zu verlassen?“, fragte er. Elsa sah ihn aus großen Augen an. „Verlassen?“, wiederholte sie mit gerunzelter Stirn. „Jawohl“, entgegnete Jakob, und es klang so nachdrücklich, als habe er bereits einen Plan gemacht. „So wie du uns eure Lage geschildert hast, werdet ihr aus dieser Erpressung nicht rauskommen. Im Augenblick ist es der Kammerjunker, mit dem dein Herr dich erpresst, dieser …“ - er suchte nach einem passenden Wort - „… dieser hundsgemeine Kerl, aber wer weiß, was er danach von dir verlangt. Du sagst, er wüsste von einem sehr schwerwiegenden Geheimnis deiner Mutter. Damit hat er sie in der Hand und dich ebenfalls. Wenn ihr hier bleibt, wird sich an eurer Situation nichts ändern. Ihr werdet nie mehr frei sein, ihr müsst jederzeit damit rechnen, dass er sein Wissen gegen euch verwendet.“ Adam machte ein fragendes Gesicht. „Verlassen, sagst du. Wohin sollen sie ihre Sadt denn verlassen?“ „Sie könnten uns begleiten“, erwiderte Jakob in einem Tonfall, als handele es sich um die selbstverständlichste 

 



Sache der Welt. „Der König sucht Kolonisten. Dringend, wie wir wissen. Und einen guten Tischler kann er gewiss brauchen. Unsere Führer werden nicht viele Fragen stellen, sondern sie mitnehmen. Die ganze Familie.“

 

Hatte Elsa ihn zuvor schon aus großen Augen angesehen, so war ihre Verblüffung nun noch um ein Vielfaches größer. Was waren das für Gedanken, mit denen sie da plötzlich konfrontiert wurde? Was für Perspektiven, die ihr hier aufgezeigt wurden? Ihr und auch ihrer Familie. Dass sie selbst lieber heute als morgen aus Berlin fortgehen würde, war keine Frage. Aber ihr Vater? Und ihre Mutter? Und die beiden Schwestern? Zutiefst verwirrt stand Elsa da, alles schien sich um sie zu drehen. Da wurde ihr plötzlich ein Weg aufgezeigt, der so fremd war, so völlig außerhalb von allem, woran sie bis dahin gedacht hatte. Und gleichzeitig klang alles so selbstverständlich, was Jakob gesagt hatte. Ihre Augen wechselten zwischen ihm und Adam hin und her. „Ich“, stammelte sie, „ich …“ - „Du willst darüber nachdenken“, sprach Jakob ihren Gedanken aus. Sie nickte. „Tu das“, sagte Jakob. „Wir werden vermutlich noch einige Tage hier sein. Solltet ihr euch entscheiden mitzukommen, werden wir mit unseren Führern sprechen. Sie müssen ja den wahren Grund nicht erfahren. Wir erzählen ihnen einfach, deine Eltern hätten sich schon lange mit dem Gedanken getragen, dem Ruf des Königs in neue Gebiete zu folgen, und dass sie gern dabei wären, das Land voranzubringen. Das wird reichen. Du musst nur noch deine Eltern überzeugen. Und das alles muss natürlich heimlich geschehen, auf dass dein Herr keinen Verdacht schöpft … Aber wenn du dir Mühe gibst“, fügte er aufmunternd hinzu, „wirst du das schaffen.“

 

Drei Tage später verließen ein paar Wagen die Wiese an der Spree - ein Dutzend Männer, Frauen und Kinder, die nun dorthin verteilt würden, wo man sie brauchte. Ausgewählt hatten sie zwei Männer, bei denen es sich der vornehmen Kleidung zufolge und nach der gestelzten Art, wie 

sie sich gaben, wohl um Beamte des Königs handelte. Warum sie als Gruppe nicht zusammenbleiben und an demselben Ort leben konnten, fragten sich die Kolonisten, wobei Enttäuschung und bei einigen sogar Traurigkeit in ihren Worten mitschwang. Schließlich waren sie in den vergangenen Wochen zu einer Gemeinschaft geworden, die durch Dick und Dünn gegangen war und in der sich die eine oder andere Freundschaft entwickelt hatte. Doch die Beamten des Königs ließen nicht mit sich handeln. Und da sie auch nur eine unbestimmte Auskunft über das Ziel der Ausgewählten gaben, war davon auszugehen, dass man diese nicht wiedersehen würde. Tags darauf erschienen die beiden Männer erneut und schickten zwei weitere Wagen auf die Reise. Die letzten traf es eine Woche nach ihrer Ankunft in Berlin, darunter Jakob, Clara und Adam. Auch Elsa war dabei, mitsamt ihren Eltern und den beiden Schwestern. Es waren schwierige Gespräche gewesen, die ihrer Entscheidung für das Verlassen Berlins vorausgegangen waren. Zwar hatte Elsa einer erneuten Begegnung mit dem Kammerjunker durch eine vorgetäuschte Erkrankung kurzfristig entgehen können. Doch bestand die bedrohliche Lage für sie nach wie vor, und auch das Damoklesschwert über der Mutter war ein schwerwiegendes Argument. Der Seidenfabrikant hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass er sie beide in der Hand hatte, so dass es nur eines einzigen Wortes von ihm bedürfte, und eine Katastrophe würde die Tischlerfamilie in den Abgrund ziehen. Um sich wenigstens von einem Teil ihrer Schuld zu befreien, legte die Mutter den Beutel mit dem verbliebenen Geld - und das war das allermeiste -, heimlich in der Kirche nieder, auf dass Besucher ihn finden würden. Einen Teil hatte sie zuvor noch abgezweigt für ein Pferd und einen Wagen und auch ein wenig Geld für ihr tägliches Leben, bis der Vater in der neuen Heimat seinen Beruf wieder ausüben konnte. Und so rollte denn an einem Sommermorgen der Wagen von Elsas Familie gleich hinter dem von Jakob, Clara und Adam zum Tor hinaus. Wohin es ging, wussten auch sie nicht, denn wie den anderen zuvor hatten die Beamten des Königs ihnen kein Ziel 



genannt. Nur dass die Reise gen Osten führte, konnten sie dem Stand der Sonne entnehmen. „Jetzt wird es ernst“, sagte Adam, und es klang geradezu feierlich. „Ja, jetzt wird es ernst“, wiederholte Jakob seine Worte. Und während Clara wie üblich auf dem Kutschbock saß und das Pferd lenkte, schritten die beiden Männer in der Erwartung, endlich ihr neues Leben in Angriff nehmen zu können, gut gelaunt aus.