Ein Förster erinnert sich

Eine Einführung von Manfred Lentz

Seine ersten Erfahrungen mit den Russen hat Peter Keibel im Alter von 15 Jahren gemacht, das war 1945, als die Rote Armee ins Land kam und das Verhältnis zwischen der Sowjetunion und Deutschland als Folge des Krieges auf einem Tiefpunkt angelangt war. Wenn er auch in den folgenden Jahrzehnten immer wieder Umgang mit Russen gehabt hat, so lag das an seinem Beruf als Förster. Nach der Ausbildung bis 1952 im Forstamt Himmelpfort (Fürstenberg) tätig, verbrachte er die folgenden Jahre in den Oberförstereien Steinförde (Fürstenberg) und Zechliner Hütte (Zechlin), bis er 1960 für volle 35 Jahre in die Oberförsterei Zehdenick wechselte. Anhand von erlebten Fällen schildert Peter Keibel in seinen Erinnerungen die Bedeutung, die die russischen Soldaten für die Waldwirtschaft in unserer Gegend hatten. Auf privaten Fotos, die er uns freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat, kann man die Soldaten zusammen mit deutschen Waldarbeiterinnen sehen, die sie bei deren schwerer Arbeit tatkräftig unterstützten. Auf den oftmals ruppigen Umgang russischer Vorgesetzter mit den einfachen Soldaten und wieweit er selbst dabei involviert war, geht Peter Keibel in seinem Text ebenso ein wie auf das Thema Waldbrände, die auf eine bei den Russen verbreitete Sorglosigkeit im Umgang mit Feuer zurückgingen und die unseren Feuerwehren vor allem in den Sommermonaten immer wieder das Leben schwer machten.  Auch auf den von Zeitzeugen in unserer Untersuchung über "die Russen als Nachbarn" wiederholt erwähnten Schludrian der Russen im Umgang mit ihrer eigenen Technik kommt er zu sprechen, und das auch aus ganz persönlicher Betroffenheit: ein auf dunkler Straße unbeleuchtet abgestellter Pannen-LKW, der seinen Sohn bei einem Auffahrunfall mit dem Motorrad das Leben gekostet hat. Doch hat sich Peter Keibel trotz dieser persönlichen Tragödie sein grundsätzlich positives Verhältnis zu den Russen über all die Jahre bewahrt. Wenn er am Ende seiner Erinnerungen schreibt, dass wir Deutschen schlecht abschneiden würden, wollten wir das von beiden Völkern einander angetane Unrecht gegeneinander aufrechnen, so kann man ihm dabei nur zustimmen.

 

Ob es die viele frische Luft im Wald war oder eher die harte Arbeit, die Peter Keibel gekräftigt hat mit dem Ergebnis, dass er sich auch heute noch im Alter von 92 Jahren guter Gesundheit und eines regen Geistes erfreut, mag dahingestellt sein. Wir wünschen ihm jedenfalls, dass ihm diese Gaben noch lange erhalten bleiben mögen. Und wir sagen ihm herzlichen Dank dafür, dass er sich die Mühe gemacht und seine Erinnerungen an die vielen Begegnungen und Erfahrungen mit den Russen für uns niedergeschrieben hat. 



Meine Begegnungen und Erfahrungen mit den russischen Soldaten

von Peter Keibel

Am 1. Mai 1945 früh am Morgen gegen 6 Uhr sah ich die ersten russischen Soldaten in Kampfausrüstung in Waren (Müritz) entlang des Tiefwarensees. Meine Mutter, meine Schwester und ich waren mit dem Fahrrad zu meiner Großmutter nach Waren geflüchtet. Auf Anraten meines Vaters, der zu dieser Zeit als Soldat diente, hatten wir Fürstenberg verlassen, da zu befürchten war, dass die dort stationierten SS-Einheiten bei der Verteidigung Fürstenbergs die Stadt in Schutt und Asche legen würden. Die ersten Russen, die ich sah, kümmerten sich überhaupt nicht um uns, sondern waren offenbar damit beauftragt, deutsche Soldaten ausfindig zu machen. Sie gehörten sicherlich zur Spitze der kämpfenden Truppe, deren Ziel Berlin war. Das änderte sich aber innerhalb von einem Tag auf den anderen. Dann erschienen Soldaten, die alle Häuser und Gärten abklapperten und dabei auch Frauen und Mädchen vergewaltigten. Das war also für mich als 15jährigen die erste und nicht gute Erfahrung. Sie entsprach genau dem propagandistischen Bild, das die Nazis seit Monaten dem deutschen Volk eingehämmert hatten. Inzwischen war Berlin gefallen und der Krieg zu Ende. Es folgten von den örtlichen Kommandanturen Aufrufe, sämtliche Waffen, Radiogeräte, Ferngläser und übrige Wertgegenstände umgehend bei den Kommandanturen abzuliefern. Meine Großmutter besaß einen "Volksempfänger", ein sogenanntes Einheitsradio. Da ich mich damals schon ein wenig mit Elektronik auskannte, gab ich dieses Gerät nicht ab, sondern baute das Innenteil aus und stellte das leere Gehäuse vor die Tür. Mit dem Innenteil des Gerätes verkroch ich mich dann auf den Oberboden und verfolgte am 8. Mai 1945 die 

Kapitulationsverhandlungen. Ich muss gestehen, dass mir dabei ein Schauer über den Rücken lief. Ich war zu diesem Zeitpunkt 15 Jahre alt, hatte während der Kriegsjahre mit meinem Freund heimlich die Nachrichten der BBC am Radio verfolgt und war mir bewusst, was nun auf Deutschland zukommen würde.

 

Am 20. Mai 1945 bewarb ich mich beim Forstamt Neuthymen als Waldarbeitslehrling. Welch ein Glück: Ich wurde angenommen. Damit begann für mich der Ernst des Lebens. Leider unter Bedingungen, die nicht schlechter hätten sein können. Wir hatten zu dieser Zeit kaum zu essen und auch nur mangelhafte Kleidung. Der zuständige Förster in diesem Revier war bereits Rentner, wurde jedoch wegen Mangels an Personal wieder in den Dienst übernommen. Zusammen mit diesem rüstigen Rentner unternahmen wir Ende Mai 1945 eine Revierbegehung weitab jeder Zivilisation, als wir mitten im Wald von einigen Russen angehalten wurden, die nach versprengten deutschen Soldaten suchten. Als sie vor uns standen, hielten sie uns einen Revolver und eine Maschinenpistole vor die Nase. Wir wurden mit erhobenen Händen nach Waffen oder Ähnlichem durchsucht. Dabei fühlte ich die ganze Zeit über den kalten Lauf des Revolvers im Nacken und wartete auf mein Ende. Als sie bei uns nichts fanden, ließen sie uns schließlich laufen. Wir waren noch einmal mit dem Schrecken davongekommen. Wehe, sie hätten bei uns einen verdächtigen Gegenstand gefunden - der Krieg war gerade erst 20 Tage vorbei!



1946 war ich bereits durch das Landesforstamt Potsdam als Forstlehrling übernommen worden. Ich wohnte zu dieser Zeit noch bei meinen Eltern in Fürstenberg. Ich war gerade von der Arbeit aus dem Wald nach Hause zurückgekehrt, da klingelte es an unserer Haustür. Draußen stand ein mir bekannter Volkspolizist, der mich aufforderte, ihn zu begleiten. Er brachte mich zu einem mir sehr bekannten Haus, in dem damals der sowjetische militärische Nachrichtendienst  GRU  residierte. Ich wurde hier die ganze Nacht verhört, wobei sie mit mir nicht zimperlich umgingen. Ich war in den letzten 14 Tagen des Krieges durch die SS noch zum Werwolf ausgebildet worden. Ich wartete beim Verhör ständig darauf, dass sie dieses Thema berühren würden, aber kein Wort davon. Am nächsten Morgen schickten sie mich nach Hause. Meine Eltern hatten mich schon aufgegeben, denn Verhaftungen waren zu dieser Zeit nicht ungewöhnlich. Mehrere meiner damaligen Altersgenossen waren schon verhaftet, und keiner konnte Auskunft geben, wo sie geblieben waren. Vier Wochen später holten sie mich erneut zum GRU. Bei diesem Verhör redeten sie auf mich ein, ich sollte meinen Beruf aufgeben und in der Sowjetunion als zukünftiger Ingenieur arbeiten. Als ich alles ablehnte, wurden sie handgreiflich und grob zu mir. Gegen Morgen musste ich ein auf Russisch geschriebenes Protokoll unterzeichnen. Mir wurde strengste Schweigepflicht verordnet. Ein Soldat begleitete mich in die Waschküche und forderte mich auf, mein Gesicht zu reinigen. Dann wurde ich entlassen. Mein Vater riet 

mir, mich umgehend in den Zug zu setzen, um nach Westberlin zu fahren. Ich habe das kategorisch abgelehnt, da ich mir keiner Schuld bewusst war. Diese Entscheidung habe ich niemals bereut. Sehr viel später erfuhr ich aus sicherer Quelle, dass unser ehemaliger Jungzugführer alle Namen unseres Zuges an die Russen weitergegeben hatte. Danach setzte er sich in den Westen ab. Die Jugendlichen landeten damals in verschiedenen Internierungslagern. Etliche haben es nicht überlebt.

 

Problematisch war das Zusammentreffen mit militärischen Einheiten im Wald. Dabei konnte es passieren, dass man überraschend von einem Wachposten gestellt und zum nächsten Offizier gebracht wurde. Bei der Gegenüberstellung löste sich dann sehr schnell der Konflikt, wenn man sich als zuständiger Förster ausweisen konnte. Diese Sensibilität in Fragen der Sicherheit war natürlich der ständigen Präsenz der Westalliierten in der Nähe von militärischen Einrichtungen geschuldet. Erhebliche Probleme hatte ich als Oberförster in Zechlin mit der Nähe des Schießplatzes Wittstock. Dieser grenzte unmittelbar an das Territorium der Oberförsterei Zechlinerhütte. Da es auf dem Schießplatzgelände in den Sommermonaten fast permanent brannte, bestand immer die Gefahr des Übergreifens auf unseren Wald. Daher pendelte in der gefährlichen Zeit immer ein Waldarbeiter als Wachposten per Fahrrad.



(Die Fotos lassen sich wie auf unserer Webseite üblich durch Anklicken vergrößern.)

1960 erfolgte meine Versetzung nach Zehdenick. Und wieder hatte ich es mit der Nähe der Russen zu tun. Vogelsang und Groß Dölln waren die Konzentrationspunkte, abgesehen von den üblichen Zündeleien der Russen im Wald, die besonders von den Verkehrsposten ausgingen, die sich bei kaltem Wetter ein Feuer entfachten, es aber niemals wieder ablöschten. Dazu muss ich bemerken, dass die Russen in ihrem eigenen Land ein völlig anderes Verständnis für den unermesslichen Waldreichtum, für Raum und Zeit entwickelt haben.  Was heute nicht wird, wird morgen sein.  Für uns rastlose Deutsche eine schwer vorstellbare Lebensauffassung. Diese Mentalität habe ich all die Jahre in den verschiedensten Situationen feststellen können. In den Wäldern unseres damaligen Forstbetriebes entstanden nach Truppenverlegungen immer wieder sogenannte Manöverschäden. Die Wege im Wald waren mitunter unpassierbar, so dass nicht einmal mehr die Holzabfuhr gewährleistet war. Unser Forstdirektor meldete in Fürstenberg beim General Regress an. Die Russen sollten den Schaden selbst beseitigen. Geld nützte unserem Betrieb wenig, wir wollten die Russen lieber zur Unterstützung bei den Aufforstungsarbeiten einsetzen. Zu dieser Zeit litten die Forstbetriebe permanent unter Arbeitskräftemangel. In diesen Jahren verwaltete ich im Exin eine größere Forstbaumschule, in der die Pflanzen für die jährlichen Aufforstungsarbeiten bereitgestellt wurden. Diese großen Pflanzenmengen mussten in relativ kurzer Zeit geerntet und zum Transport bereitgestellt werden. Ich erhielt nun regelmäßig von diesem Kontingent an arbeitswilligen Soldaten meinen Anteil. 

Es handelte sich dabei immer um eine kleine Anzahl zwischen 10 und 15 Soldaten einschließlich Korporal. Vorwiegend kamen diese Soldaten aus dem Raum Fürstenberg, alles junge Burschen, um die 20 Jahre alt. Meine Waldarbeiterinnen - sie hätten die Mütter der jungen Soldaten sein können - bereiteten sich auf diese Hilfe vor. Die Soldaten wurden per LKW zu uns geschickt. Nach kurzer Einweisung in die Arbeit waren diese Einsätze immer eine große Hilfe für uns. Die zum Teil großen und fest verwurzelten Pflanzen zu bergen, war für die jungen Soldaten keine Schwierigkeit, für unsere Frauen war es aber eine große körperliche Entlastung.



Wir hatten in der Baumschule ein Sozialgebäude mit allem, was dazugehörte. Hier bereiteten meine Mitarbeiter für die Soldaten das Frühstück vor. Frische Brötchen und Wurst hatten die Frauen in der Frühe, als sie zur Arbeit fuhren, bereits beim Bäcker in Falkenthal eingekauft. In der ersten Zeit trauten sich die Soldaten nicht, das Dargebotene anzurühren. Schnell aber verflog die anfängliche Schüchternheit. - Unsere Verständigung war ein wenig kompliziert, aber immer war einer unter den Soldaten, der Englisch sprach. Später erhielten wir auch Post von einigen Soldaten. Eine Mutter bedankte sich in Form eines Päckchens mit "Matrjoschkas".

Eine Begebenheit ist mir noch sehr gut in Erinnerung, die für die russische Mentalität besonders kennzeichnend war. Ich hatte im Winterhalbjahr eine Gruppe junger Soldaten für notwendige Astungsaufgaben bekommen. Ein Offizier brachte morgens die Soldaten mit einem LKW und fuhr mit demselben wieder davon. Ich setzte die Soldaten für die vorgesehene Tätigkeit ein und ließ sie alleine arbeiten. Zuvor hatte mir der Offizier mitgeteilt, dass die Soldaten Proviant mit hätten. Zwischendurch besuchte ich die Mannschaft noch einmal, und sie versicherten mir, dass sie um 15 Uhr abgeholt würden. Ich war zu dieser Zeit pünktlich vor Ort und musste feststellen, dass kein LKW kam. Die Soldaten waren durch ihre Arbeit 



völlig durchnässt, denn es war in der Nacht zuvor nasser Schnee gefallen. Damals gab es noch kein Mobiltelefon, mit dem ich mich hätte erkundigen können, wo das Auto bleibt. Ich ließ die Russen nun nicht mehr allein, weil sie mir leid taten. Sie hatten so fleißig gearbeitet, nun waren sie nass, und es wurde zusehends dunkel. Die Russen waren aber guter Laune. Ich sorgte dafür, dass sie ein Feuer anzündeten, um sich ihre Strümpfe und Kittel zu trocknen. Ich selber fuhr nach Krewelin in den Konsum und kaufte kurz vor Ladenschluss alle noch vorhandenen Kochwürste sowie Zigaretten und Brause ein. Bei den Soldaten waren mein Mitbringsel hoch willkommen, da sie nun richtig Hunger hatten. Ich hatte die Hoffnung auf einen LKW längst aufgegeben. Nachdem sie alles verputzt hatten, ließ ein drahtiger Sergeant die Truppe antreten und wollte von mir nur noch  wissen, wo der Weg nach Fürstenberg sei (35 km). Ich konnte es kaum 

glauben, was sie vorhatten. Ich begleitete sie aus dem Wald bis an die Straße nach Zehdenick. Mit einem Lied auf den Lippen traten sie ihren Marsch an. Am darauffolgenden Tag habe ich mich aber doch bei meinem Betrieb erkundigt, ob die Soldaten angekommen waren. 

Später rief man mich an und bestätigte die glückliche Ankunft der Soldaten. So funktioniert es eben nur bei den Russen!

 

Mit dem Einsatz der Soldaten bei uns in der Forstwirtschaft haben sie sich auf vielfältige Weise ein Denkmal gesetzt. Zwar waren sie durch ihren sorglosen Umfang mit Feuer oft die Ursache für große Waldbrände, auf der anderen Seite könnte ich aber heute noch diverse Waldstücke zeigen, die durch ihre Mitarbeit entstanden sind.

 

Dass es durch das Zusammenleben der Russen und der Deutschen auch bittere persönliche Erfahrungen gab, will ich zum Schluss meiner Ausführungen berichten. 1982 befand sich mein Sohn Michael in der forstlichen Ausbildung in Kunsterspring bei Neuruppin. Eines Abends im November befuhr er mit seinem Motorrad und einem Kameraden aus Neuruppin kommend die Wittstocker Allee. Sie hatten ein kleines Geburtstagsgeschenk für einen Kumpel gekauft. Zwischen 18 und 19 Uhr herrschte an diesem Abend sehr schlechte Sicht durch Nieselregen. Die Russen hatten einen LKW mit blockiertem Getriebe und ohne Beleuchtung auf der Allee abgestellt. Zur Bewachung ließen sie einen Soldaten am Fahrzeug zurück, der aber wegen des schlechten Wetters im Führerhaus blieb. Auf dieses unbeleuchtete Fahrzeug ist mein Sohn offenbar ungebremst aufgefahren. Durch den Aufprall fing das Motorrad sofort Feuer, in dem mein Sohn verbrannte. Der Kumpel hat überlebt. Bei diesem Unfall war wieder einmal die Sorglosigkeit der Russen der Grund für eine Tragödie.

 

Dieser tragische Unfall hat aber unser Verhältnis allgemein zu den Russen nicht verändert. Unfälle passieren auch ohne die Russen. Ich habe mich in meinem Leben immer bemüht, Ursache und Wirkung nicht durcheinander zu würfeln. Ich sage es noch einmal: Die Russen sind nicht freiwillig nach Deutschland gekommen. Wir sollten uns hüten, das Unrecht der beiden Völker gegeneinander aufzurechnen, denn dabei würden wir Deutschen schlecht wegkommen.